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Erst wurde die "Sklaverei" abgelegt, nun kämpft man mit "Bruderkomplex".
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Kiew/Wien. "Wir trinken weniger", war vor drei Jahren die lapidare Antwort von einer Gruppe Ukrainer auf die Frage, was denn der Unterschied zwischen Russen und ihnen sei. Und das war eher eine Verlegenheitsantwort, der es einiger Bedenkzeit bedurfte. Die Befragten machten nach langem Hin und Her schließlich die lange gemeinsame Geschichte dafür verantwortlich, dass die Unterschiede nicht so klar definierbar seien.
Heute ist das Bild anders. "Wir sind zwei verschiedene Völker", sagt Galina Arakeljan, eine Kiewer Angestellte, und vergleicht den Unterschied mit dem zwischen Deutschland und Österreich. "Mentalität wie Werte unterscheiden sich", erklärt auch die Kiewerin Oksana Tukalewskaja. "Den Russen ist die Idee eines Imperiums wichtig, die Größe des Staates. Für die Ukrainer steht die Freiheit im Mittelpunkt", ist sie überzeugt.
Freilich kommt kaum eine Antwort auf eine derartige Frage ohne gewisse Klischees und Vorurteile aus. Gleichwohl wird diese Debatte derzeit in der Ukraine geführt - und wird zunehmend emotionaler. Sie beschäftigt die Ukrainer angesichts der innenpolitischen Umwälzungen im Land heute täglich.
Noch vor zwei Jahren hätte es einen Ukrainer, der ausschließlich Russisch spricht, ein müdes Lächeln gekostet, wenn man ihn als Russen bezeichnet - er hätte diese Behauptung mit dem Gedanken geistig abgewunken, dass das Gegenüber einfach keine Ahnung hätte. Die Muße, den Unterschied zu erklären, hatte kaum jemand. Heute wird er wahrscheinlich denjenigen, der so ein Urteil über ihn fällt, mit hochrotem Kopf eine Lektion über seine Heimat erteilen, in der er ihn unter anderem darauf hinweist, dass die Verwendung der Sprache alleine aus ihm sicher nicht gleich einen Russen mache.
Entwicklungen von Biedermännern zu Bürgern
Viele Beobachter sind sich einig, dass die Revolution in der Ukraine, die Ende November des Vorjahres ihren Anfang nahm, die einschneidendsten Beiträge und Debatten im Bereich der Nationenbildung und nationales Selbstverständnis in der Geschichte der gut 20-jährigen Unabhängigkeit des Landes ausgelöst hat.
"Das während der Revolution vergossene Blut hat uns von stillen Biedermännern in Bürger verwandelt", schreibt etwa Sergej Rachmanin, einer der bekanntesten Politanalysten des Landes, kürzlich in einem der ukraineweit in sozialen Medien am meisten empfohlenen Artikel der letzten Wochen. Der Kampf am Maidan gegen die Staatsführung hätte die Menschen gelehrt, ihre Rechte einzufordern, dabei ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen und nicht mehr bloß auf die Obrigkeit zu schimpfen, wie es viele nach der enttäuschenden Orangen Revolution 2004 taten.
"Viele von uns haben dieser Tage ihren inneren Sklaven bereits für immer umgebracht", so Rachmanin. Auch der ukrainische Politologe Andrej Ermolajew hatte zuvor erklärt, der Maidan sei nicht bloß ein Platz oder ein Territorium, sondern ein "qualitativ neuer sozialer Raum mit hoher bürgerlicher Selbstorganisation", der sich und die Menschen darin mehrmals transformiert habe.
Zweite Etappe: Loslösung vom großen Bruder
Die Ukrainer machten aber auch weitere für sie unerwartete Entdeckungen während der Auseinandersetzungen. Die wirtschaftliche Schieflage, der nicht vorhandene Sozialstaat und die überbordende Korruption hatten sie zuvor oft dazu gezwungen, sich im Leben grob und mit Ellenbogeneinsatz durchzuschlagen, ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen. "Wir haben begonnen, die Menschen zu bemerken", schreibt Rachmanin, "und sie als Menschen wahrzunehmen." Im "Kampf, in der Rettung und im Leid" hätten die Leute zueinandergefunden.
Diese Entdeckungen waren laut Beobachtern aber erst der Anfang. Eine zweite Etappe in der "ukrainischen Bewusstseinswerdung" hätte nach der Vertreibung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch eingesetzt - die noch keinen Monat her ist, sich für viele Ukrainer aber so anfühlt, als wäre sie in einem anderen Leben passiert.
Durch die seither eingesetzte zunehmende Konfrontation mit dem Nachbarland Russland vollziehe sich nämlich jetzt "der qualvolle Prozess des Absterbens des Kleinen-Bruder-Komplexes", erklärt Rachmanin in seinem teilweise ungewöhnlich emotionalen Artikel. Heute, schreiben Ukrainer in sozialen Medien, wollen sie ernst genommen werden und jeglicher Bevormundung einen Riegel vorschieben. Sollte sich auch dieser Konflikt weiter zuspitzen, wird wohl auch in der zweiten Phase die am Maidan so beliebte Losung "Freiheit oder Tod" weiterhin bemüht werden.