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Revolution im Praxistest

Von Gerhard Lechner

Politik

Nationalversammlung in Tunis soll demokratische Verfassung ausarbeiten.


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Tunis/Wien. Am Sonntag ist es soweit: Mit der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung in Tunesien findet erstmals eine demokratische Standortbestimmung in einem jener Länder statt, die im sogenannten Arabischen Frühling die Diktatur hinter sich gelassen haben. Das internationale Interesse ist groß, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat eine 70-köpfige Wahlbeobachtermission nach Tunesien geschickt. Mit Christine Muttonen, der außenpolitischen Sprecherin der SPÖ, nimmt auch eine Parlamentarierin aus Österreich daran teil. Beji Caid Essebsi, der Chef der Interimsregierung, rief die Bevölkerung dazu auf, "ohne Furcht" ihre Stimme abzugeben.

Die konstituierende Nationalversammlung stellt, wie der Name bereits ausdrückt, noch kein Parlament dar, sondern die Vorstufe dazu. Die am Sonntag gewählte Versammlung, deren Mandat auf ein Jahr beschränkt ist, soll einen Übergangspräsidenten bestimmen und eine neue Verfassung ausarbeiten.

Wie die Machtverteilung in dem 217 Sitze fassenden Gremium nach der Wahl wirklich aussehen wird, darüber wird heftig spekuliert. Immerhin treten 1570 Listen zur Wahl an. Trotz der hohen Zahl an Unentschlossenen scheint aber klar, dass die islamistische An-Nahda-Partei, deren Name mit "Wiedererweckung" übersetzt werden kann, gut im Rennen liegt. Die Umfragen, deren Aussagekraft freilich angezweifelt wird, sehen sie mit bis zu 30 Prozent an erster Stelle liegen. Der Chef der Islamisten, der 70-jährige Rachid Ghannouchi, bemüht sich um ein moderates Image. Befürchtungen, die An-Nahda-Partei werde Männer und Frauen auf den Badestränden separieren, verneinte er: "Wir wollen nicht, dass sich der Staat in das Privatleben der Menschen einmischt."

Gute Startbedingungen

Obwohl es auch in Tunesien einen Graben zwischen säkularen und islamistischen Kräften gibt, sind Beobachter wie der Nahost-Experte Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) davon überzeugt, dass Tunesien in der Region über die vergleichsweise besten Voraussetzungen für einen demokratischen Wandel verfügt. "Das Land ist relativ stabil und homogen, es gibt keine ethnische und konfessionelle Zersplitterung", sagt Günay der "Wiener Zeitung". Auch aus anderen Gründen seien die Startbedingungen besser als in Ägypten oder gar in Libyen, das über gar keine funktionierenden Institutionen verfügt: "Der Tourismus floriert, das Land lebt nicht nur von Rohstoffen wie Öl oder Gas, hat eine diversifizierte Wirtschaft. Auch politisch ist Tunesien eher fortschrittlich, mit einer säkularen Tradition", meint Günay. Ein Eindruck, den auch SP-Politikerin Muttonen bestätigt: "Die Listen für die Wahlen am Sonntag mussten zu 50 Prozent aus Frauen bestehen", sagte Muttonen der "Wiener Zeitung" kurz vor ihrem Abflug nach Tunesien, wo sie die Gelegenheit haben wird, sowohl Abgabe als auch Auszählung der Stimmen zu beobachten. "Das heißt natürlich nicht, dass es dann auch viele Frauen in die Nationalversammlung schaffen", schränkt sie ein. "Das Wichtigste für Tunesien wird wohl sein, dass es langfristig zu keinem Kulturkampf zwischen Säkularen und Islamisten kommt", sagt Muttonen.