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Revolution mit offenem Ausgang

Von Emilio Rappold

Politik

Rio de Janeiro - Viel Zeit zum Feiern hat Brasiliens nächster Präsident nicht. Der Sozialist Luiz Inacio Lula da Silva wird bereits zwei Monate vor der Amtsübernahme von Freund und Feind mächtig unter Druck gesetzt.


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So meinen auch internationale Beobachter, dass der erste linksgerichtete Staatspräsident Brasiliens zwischen den gigantischen Erwartungen seiner Anhänger, dem Druck der politischen Rivalen und den wirtschaftlichen Zwängen zerrieben werden könnte. "Armer Lula!", meinte jüngst der angesehene deutsche Brasilien-Experte Berthold Zilly von der Freien Uni Berlin. Das Volk verehre Lula wie einen Messias, müsse aber wissen, dass die neue Regierung strikten Ausgaben-Beschränkungen unterworfen sein werde.

Lulas Koalition wird im Parlament nur eine 30-Prozent-Minderheit stellen. "Er muss aber vor allem die radikalen Kräfte in der eigenen Partei unter Kontrolle halten", glaubt Horacio Piva, Chef des Industrieverbandes in Sao Paulo. Lulas "Partei der Arbeiter" (PT) gehören auch Marxisten an, die im Abgeordnetenhaus 26 von 91-PT-Sitzen besetzen und alles andere als kompromissbereit sind. Sie fordern etwa die "Enteignung der Bourgeoisie" und Annullierung der Privatisierungen.

Andere sind realistischer. "Wir leben in einem Land mit so viel Elend, einem Land mit der Gewalt Kolumbiens und den wirtschaftlichen Problemen von Argentinien, dass es schon eine Revolution wäre, wenn Lula jedem Brasilianer einen Teller Essen pro Tag garantieren könnte", sagt der berühmte Befreiungstheologe und Schriftsteller Frei Betto, seit Jahren einer der engsten Freunde des neuen Präsidenten.

In Brasilien, das nicht mehr mit dem Kaffee, sondern mit einer hochmodernen Flugzeugindustrie die meisten Exportdevisen erzielt, müssen nach Kirchen-Schätzung 50 von 175 Millionen hungern. Die Kontraste zwischen Arm und Reich sind immens. Lulas Triumph wurde von Beobachtern nun als "friedliche Revolution der Armen" gewertet. Im Gegensatz zu früher, als er die Einstellung der Schuldenrückzahlung forderte und über Kapitalisten und Establishment her zog, schlägt Lula heute moderate Töne an. Internationale Verträge sollten respektiert werden, sagt er. Lula wird inzwischen von vielen Unternehmern unterstützt, darunter vom mächtigen José Alencar.

Die Probleme aber bleiben immens. Der scheidende Präsident Fernando Cardoso hat in acht Amtsjahren eine Stabilitätspolitik verfolgt, aber die strukturellen Defizite kaum angepackt. Neben der perversen Einkommensverteilung und einer drastischen Zunahme der Arbeitslosigkeit bereitet auch die Überschuldung große Sorgen. "Das Wahlergebnis zeigt den Wunsch nach Veränderungen einer gereiften Wählerschaft, die aber baldige Resultate fordern wird", ist der angesehene Politologe Yan de Souza Carreirao überzeugt.