Als ich 1999 das erste Mal in Syrien war, blieb jeder Versuch, mit irgendjemandem über Politik zu diskutieren erfolglos. Wer irgendwo im öffentlichen Raum versuchte, etwas über die Meinung der Bevölkerung zu erfahren, saß sofort alleine da.
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Zu groß war die Angst vor dem allgegenwärtigen Geheimdienst, dem Mukhabarat. Das Regime der Baath-Partei, mit seiner kruden ideologischen Mischung aus faschistischen, antisemitischen und marxistischen Elementen, war eines der repressivsten unter den autoritärsten des Nahen Ostens. Unter Hafez al-Assad war klar, wie mit Aufständen in Syrien umgegangen wird. Gegen einen Aufstand der Muslimbruderschaft in der Stadt Hama ließ er 1982 die Stadt dem Erdboden gleichmachen. 20.000 bis 30.000 Zivilisten bezahlten mit ihrem Leben. In den Gefängnissen des Regimes wurden nicht nur Islamisten, sondern auch Kommunisten, Liberale oder kurdische Aktivisten gefoltert.
Nach dem Tod Hafez al-Assads im Juni 2000, hofften die Syrer unter seinem Sohn Bashar auf Reformen. Tatsächlich wurden einige Oppositionelle aus der Haft entlassen. Der kurze "Damaszener Frühling" endete jedoch bereits im September 2001 mit der Verhaftung des im Reformprozess engagierten unabhängigen Abgeordneten Riad Saif und einer Reihe reformorientierter Intellektueller.
Damit verschwand jedoch nicht der Reformstau und die Unzufriedenheit der Bevölkerung. 2004 kam es in Qamishli, der heimlichen Hauptstadt der syrischen Kurden, zu einem mit massiver Gewalt unterdrückten Aufstand. In den kurdischen Gebieten kam es seither immer wieder zu Protesten. Das Regime antwortete mit Einschüchterungen. Selbst in Europa fürchteten sich Oppositionelle vor dem langen Arm des auch in Österreich präsenten Geheimdienstes.
Erst die arabischen Revolutionen und Proteste der letzten Monate nahmen auch der Bevölkerung im arabischen Kernland die Angst, zunächst den Kindern. Die Verhaftung von Kindern, die, wie sie es auf Al Jazeera im Fernsehen gesehen hatten, Demokratieparolen an Wände geschmiert hatten, brachte in Deraa die Erwachsenen auf die Straßen. Seither hat sich der Aufstand auch auf andere Städte ausgeweitet.
Das primär von religiösen Minderheiten dominierte Regime hat jedoch panische Angst vor der möglichen Rache der sunnitischen Mehrheit. Die Entlassung der Regierung ist damit weniger ein Wechsel als der Versuch, das Regime zu retten. Es ist zwar ein gutes Zeichen, dass Bashar al-Assad im Gegensatz zu Libyens Gaddafi die Demonstrationen nicht nur mit Gewalt beantwortet, sondern auch noch andere Überlebensstrategien versucht. Die über 100 in den letzten Tagen ermordeten Demonstranten zeigen jedoch, dass auch Syriens Baath-Regime im Falle der Bedrohung seines Systems bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen.
Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Research Fellow an der University of Minnesota (USA).