Glaube oder Wissenschaft? Priester oder Psychotherapeut? Kann man beides vereinbaren? Nein, sagt Gestalttherapeut Richard Picker, der des Priesteramts enthoben wurde. Ja, sagt Pfarrer Gerhard Bauer, der als Psychotherapeut arbeitet.
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"Wiener Zeitung": Herr Picker, Sie waren über zehn Jahre lang im kirchlichen Amt. 1970 haben Sie die Soutane an den Nagel gehängt. Warum?Richard Picker: Da geht es um innere Vorgänge. Ich habe gemerkt, dass das eine das andere wegdrängt. Als ich die Gestalttherapie kennen lernte, war sie mir sofort nahe - gleich nach der Psychoanalyse. Es gab damals viele Leute, die fragten: "Wieso willst du dich ausgerechnet dem Fritz Perls (Mitbegründer der Gestalttherapie, Anm.) anschließen?" Aber ich habe ihn einfach auf Anhieb von A bis Z verstanden. Und obwohl es stichhaltige Einwände gegen ihn gab, war seine Präsenz im Moment größer als alles andere. Es ist nun immer die Frage, wie man zu so einer inneren Wahrheit steht - was es einen selbst kostet, was es der Öffentlichkeit kosten darf und was es wert ist. Und wenn Sie da eine relativ klare Auffassung haben, dann haben Sie keinen großen Spielraum mehr . . .
Wenn es möglich gewesen wäre, Priester zu bleiben, zu heiraten und gleichzeitig Therapeut zu sein - hätten Sie es getan?Picker: Das hätte ich gemacht, das wäre die Traumlösung gewesen. Nur ging das nicht. Es geht ja nicht darum, was ich gerne machen würde, sondern was ich machen muss. Wir haben’s in der katholischen Kirche mit einer Offenbarungsreligion zu tun, da kommt’s nicht darauf an, wonach mir gerade ist. Da gibt’s was zu vertreten. "Am Anfang war das Wort" - damit sind Sie geliefert! Entweder Sie setzen Ihr ganzes Vertrauen auf dieses Wort oder Sie tun es eben nicht. Aber Sie können nicht einfach sagen: Das gefällt mir nicht so sehr.
Herr Bauer kann beides vereinbaren.Picker: Herr Bauer hat sich um etwas gedrückt oder hat Entscheidungen verschoben. Er sollte sich Fragen stellen. A: Warum bin ich Priester geworden? B: Wie lang kann ich das noch bleiben? Das sind Grundprobleme, die mit einem Weltbildwandel einhergehen.
Gerhard Bauer: Also, was ist für Sie so unvereinbar zwischen dem Seelsorger im Kleid des Priesters und dem Psychotherapeuten? Dass es Widersprüche gibt, dass Reibungspunkte auftreten, ist klar. Aber unvereinbar ist es für mich nicht. Nur wenn ich wie Sie als Psychotherapeut heirate, dann ist der Knackpunkt erreicht, weil das mit den Weihebedingungen nicht kompatibel ist.
Picker: Ja, vereinbar ist es, wenn Sie Ihre persönliche Lösung leben können. Aber wenn Sie diese Lösung wirklich ernst nehmen und öffentlich vertreten, dann ist es nicht vereinbar. Es sei denn, Sie gehen in einen inneren Nicht-Kontakt mit Ihrem eigentlichen Ziel. Aber das ist auf Dauer nicht erträglich. Sie können nicht den Anspruch einer Offenbarung mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Wahrheit unter einen Hut bringen. Die Psychotherapie will ja mit allem, was sie hat, unbedingt eine Wissenschaft sein.
Ich kann mich nicht auf eine Offenbarung berufen und gleichzeitig bei Rousseau nachschauen. Die Kirche hat, glaube ich, die größte Schwierigkeit mit einem modernen Weltbild und mit allem, was solch ein modernes Weltbild mit sich bringt. Für Galileo Galilei gibt es die Schwerkraft, denn sie ist beweisbar. Für die Kirche gibt es die Schwerkraft, denn sie steht in der Bibel. Das ist ein großer Unterschied.
Bauer: Die Schwerkraft steht in der Bibel? Nichts in der Welt ist außerhalb der Offenbarung. Sonst müsste ich ja auch Weihnachten abschaffen.
Picker: Das gehört in einem modernen Weltbild ja auch abgeschafft! Das ist ein reines Geschäftsunternehmen. Einer der fünf oder zehn großen Mythen über eine Menschwerdung.
Bauer: Nein, ich meine das umgekehrt: Wenn ich die Welt als Theologe mit all dem, was sie ausmacht, mit all dem Geschaffenen nicht akzeptiere, müsste ich Weihnachten abschaffen. Es geht darum, dass ich an diese Zusage Gottes glaube, dass er diese Schöpfung so sehr will, dass er sich selbst darauf einlässt. Und nicht nur auf das Schöne und Gute, sondern auch auf die Abgründe des Lebens, auf das "Hinabgestiegen in das Reich des Todes". Mit diesen Abgründen haben wir ja als Seelsorger und als Psychotherapeuten zu tun.
Picker: Also, beide Fraktionen versuchen diese Abgründe zu zähmen.
Bauer: Genau.
Picker: Damit sind Sie aber schon auf einem Weg, der eigentlich unbiblisch ist. Sie haben nicht etwas zu zähmen, sondern um Erlösung zu bitten.
Bauer: Steht Zähmen nicht auch für den menschlichen Versuch, damit umzugehen, was so verquer daherkommt? Die Psychotherapie will innerweltlich so weit gehen, dass für diesen ganz konkreten Menschen und seine Abgründe eine Lösung möglich wird. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich mich - bei aller Zähmung - nicht auch um Erlösung bemühen kann. Eine Erlösung, die von anderswo herkommt oder mir zugesagt wird.
Picker: Das ist das eigentliche Vokabular, das wir uns zugelegt haben: "Es wurde mir zugesagt" und so weiter. Aber wenn Sie es näher betrachten und bedenken, ist das Schall und Rauch. Wer hat was gesagt und welche Bedeutung hat es? Es ist die Größe der rationalistischen Aufklärung gewesen, diese Rechts- und Linkskurven abzulehnen. Sie können mir das, was ich brauche, nicht zusagen, es geht einfach nicht. Mit welcher Autorität?
Wenn ich Klerikern etwas vorwerfe, dann dass sie lügen! Sie lügen, weil sie sich kein anderes Leben vorstellen können. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Lesen Sie einmal ein paar Biographien der großen Hitler-Gefolgsleute. Es ist erschütternd, wie deren Lebensläufe immer weiter entgleiten, wie die Mordlust immer mehr zunimmt und Korrektivmaßnahmen nicht mehr greifen. Trotzdem wird das Ganze durch eine Behauptung sanktioniert, eine glatte Behauptung - und zwar: Wir werden siegen. Als Therapeut verstehe ich, dass man ein Lebenskonzept braucht, das irgendwie stimmig sein muss, aber das ist zu viel!
Herr Bauer, Sie haben vorhin Reibungspunkte bei der Kombination Priester/Psychotherapeut angesprochen. Welche meinen Sie konkret?Bauer: Dadurch, dass ich die Psychotherapieausbildung gemacht habe, bewege ich mich immer wieder an den Rändern kirchlicher Verfassung. Nehmen wir zum Beispiel die Abtreibung. Als Kirchenmann habe ich eine klare Position zu vertreten, nämlich: Das ist nicht erlaubt. Als Therapeut habe ich aber einen Menschen vor mir, der möglicherweise eine Abtreibung gemacht hat, und ich muss dafür sorgen, dass dieser Mensch in einer guten, gelingenden Weise mit dem, was er erlebt hat, leben kann.
Wechseln Sie da die Rollen, sind Sie einmal Priester und ein andermal Therapeut?Bauer: Nein, viele Menschen kommen ja gerade deshalb zu mir, weil sie die Kombination Psychotherapeut und Seelsorger wollen. Die Kirche darf ja auch Stellung beziehen zu einer Sache, ohne dass das für mich als Therapeut gelten muss. In der Kirche würde eine Abtreibung eine Sanktion bedeuten, nämlich die Exkommunikation. Als Therapeut hat der Mensch von mir keine Konsequenzen zu erwarten.
Picker: Ist das nicht zu juridisch gedacht?
Bauer: Nein, denn auch wenn die Kirche sozusagen als Vorfeldorganisation für den Himmel hier Regeln aufstellt, kann ich sagen: Möglicherweise gibt’s darüber hinaus noch eine größere Wirklichkeit, die genau das, was du an Schicksal da mitträgst, in der Barmherzigkeit auffängt.
Und was tun Sie in dem Fall, wenn eine Frau zu Ihnen kommt, die die Abtreibung erst plant?Bauer: Ich glaube, ich muss sowohl als Therapeut als auch als Seelsorger versuchen herauszuarbeiten, was das Beste für die Gesamtsituation ist. Da gehört die Frau dazu, das Kind, das sie im Leib hat, möglicherweise der Erzeuger, vielleicht andere Kinder, eine Familie und das soziale Umfeld. Um es mit Viktor Frankl (Begründer der Logotherapie, Anm.) zu sagen: Es ist meine Aufgabe, zu helfen, die in dieser Situation "sinnvolle" Lösung oder Entscheidung zu finden. Entscheiden wird dieser Mensch aber selber. Nicht ich. Auch wenn ich als Priester mit einem klaren Auftrag hier sitze, entscheidet immer noch der Mensch.
Picker: Das klingt so zufrieden. Mach’ ma ein Hackerl und die Sache hat sich.
Bauer: Na, sie macht das Hackerl und nicht ich. Wenn dieser Mensch so entscheidet, wie ich nicht entscheiden würde, dann leide ich ja.
Picker: Das kann ich nicht beurteilen, ob Sie leiden oder nicht. Das hängt von Ihnen selbst ab. Außerdem würde ich Sie vor dieser Kombination Therapeut/Seelsorger warnen, denn da kommen Sie aus den Schmerzen nicht mehr heraus.
Bauer: Wie ich mit meinen Schmerzen umgehe, ist eine andere Frage. Meine Schmerzen habe ich ja sowieso, ich kann mich in der Therapie nicht mit meiner emotionalen Wirklichkeit herausnehmen. Von solch einer Abstinenz träume ich nicht einmal mehr.
Herr Bauer, nehmen Sie die Kirche eigentlich nicht so ernst?Bauer: Ich nehme die Kirche ernst, aber relativ. Die Kirche ist nicht das Erste für mich. Das Erste ist die Offenbarung. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, die Kirche zu verkünden, sondern das Evangelium. Die Kirche ist nur mein Dienstgeber und außerdem menschliches Machwerk. Frankl-mäßig sage ich: Nicht wir stellen die Fragen, sondern das Leben stellt die Fragen an uns. Auch die Kirche wird vom Leben angefragt. Ecken Sie mit solchen Ansichten nicht an?Bauer: Das weiß ich nicht, man hat mich noch nicht zum Gespräch eingeladen. Aber ich würde auch dort meinen Mund nicht halten. Für mich ist die Kirche immer noch weiter als zum Beispiel die sozialistische Partei, denn dort muss jeder sagen, was Parteiprogramm ist. Ich kann auch dagegen reden, ohne hinausgeschmissen zu werden.
Picker: Eine Zeit lang geht das so. Wir müssten eigentlich streiten - dann kämen diese nebulosen Formulierungen von Leben, Fragen ans Leben etc. heraus und würden ihr wahres Gesicht zeigen. Aber so geht das irgendwie wie eine Schlange dahin, rechts, links, rechts, links, aber Sie glauben es ja selber nicht!
Bauer: Was glaube ich nicht?
Picker: Was Sie jetzt gerade erzählt haben.
Bauer: Doch. Ich bin fest davon überzeugt, denn sonst würde ich das nicht schon dreizehn Jahre als eingetragener Therapeut aushalten.
Picker: Das ist keine Kunst als eingetragener Therapeut. Gut, das ist ein anderes Thema, aber ich finde, so glatt geht das nicht!
Bauer: Es ist nicht glatt, das Leben ist keine glatte Geschichte.
Picker: Kann Sie eigentlich noch irgendetwas überraschen?
Bauer: Natürlich können mich Dinge überraschen, aber wenn ich länger nachdenke, wachse ich hinein in die Überraschung, sodass sie ins Alltägliche integrierbar wird.
Picker: Nützt nichts, es ist glatt.
Bauer: Wir werden uns nicht einigen.
Dagmar Weidinger, geboren 1980, promovierte Kunsthistorikerin, lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien.
Gerhard Bauer, geboren 1960 in Aspang am Wechsel, ist seit 1995 Pfarrer in der Kirche Muttergottes im Augarten im 2. Wiener Bezirk. Nach Besuch des Gymnasiums in Sachsenbrunn trat er ins Priesterseminar in Wien ein, 1987 erfolgte die Weihe. Bauer verbrachte seine ersten Arbeitsjahre in St. Florian im 5. Bezirk, wo er sich als Seelsorger in der Gruppen- und Einzelarbeit engagierte. Der junge Kaplan erkannte seine Berufung darin, Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten. Seinem Interesse folgend, machte er sich auf die Suche nach weiterführenden Ausbildungsmöglichkeiten und schloss 2000 ein Fachspezifikum am Süddeutschen Institut für Logotherapie und Existenzanalyse ab.
Es folgten Weiterbildungen, u.a. in Wertorientierter Imagination in Hamburg. 2007 verfasste Bauer eine pastoraltheologische Dissertationsschrift (bei Paul Zulehner) mit dem Titel: "Logotherapie und Seelsorge. Eine Zusammenschau". Bauer arbeitet gemeinsam mit Gudrun Ertl als Therapeut und Seelsorger im selbst gegründeten Verein "Factum".
Richard Picker, geboren 1933 in Wien, studierte Theologie in Wien und wurde im Anschluss an die Promotion 1965 zum Priester geweiht. Nach mehreren Jahren im Dienst der Kirche als Studentenseelsorger, Kaplan und Professor für Religionspädagogik wurde er im Zuge einer persönlichen Krise auf die Psychoanalyse aufmerksam. Der Wunsch, seine "Lebensfrau" Christl zu heiraten, führte zur Suspendierung vom Priesteramt. Gleichzeitig mit der Geburt des ersten von drei Kindern begann Picker seine Ausbildung in Psychoanalyse und Gestalttherapie. Seit 1974 arbeitet er in freier Praxis in Linz und Wien sowie als Erwachsenenbildner und ist Verfasser zahlreicher Bücher und Zeitungsbeiträge.
In seiner Autobiographie, "Das Ende vom Lied. Positionen eines Lebens zwischen Hitlerjugend, Psychotherapie und Kirche" (Czernin Verlag, 2005), beschreibt Picker seine Rückkehr zu Fragen der Kirche gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls Gestalttherapeutin ist. 2009 erschien sein bisher letztes Buch, "Exorzismus war gestern. Entdämonisierung durch Psychotherapie" (Kösel Verlag). 2002 wurde Picker das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen.