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Richter als Politiker

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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"Die europäische Not kennt kein Gebot", so analysiert der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde die Tendenz europäischer Regierungen, den bestehenden Rechtsrahmen über Gebühr zu strapazieren, um das Überleben des Euro und den Zusammenhalt der Union zu sichern.

Herta Däubler-Gmelin (SPD) setzt dieser ernüchternden Analyse den Kampfruf zur Seite, die Devise "Not kennt kein Gebot" dürfe nicht einreißen, weshalb die ehemalige Justizministerin entschlossen ist, den Beschluss des permanenten Euro-Rettungsschirms ESM durch das deutsche Höchstgericht zu stoppen.

Ex-Politiker und Ex-Richter können sich - im Gegenzug zu ihren aktiven Kollegen - den Luxus einer pointierten Meinung leisten. Der Grund hierfür liegt - zumindest unter der Annahme, nicht Zyniker, sondern Moralisten bekleiden öffentliche Ämter - in dem, was Max Weber als "Verantwortungsethik" bezeichnet hat. Es geht darum, bei Entscheidungen immer auch die möglichen Folgen des eigenen Tuns für andere zu berücksichtigen; der Gesinnungsethiker setzt dagegen seine eigenen Überzeugungen absolut.

Welcher Wert aber ist politisch höher einzuschätzen: das Überleben von Euro und EU oder aber die Einhaltung von Rechtsprinzipien, die zwar diese beiden Ziele gutheißen, aber nicht den hierzu von der Politik eingeschlagenen Weg?

Anders als Deutschland hat Österreich einen pragmatisch-ungezwungenen Umgang mit dem Recht: Während in Deutschland die Verfassung über den Parteien und ihren Interessen steht, ist diese hierzulande Ausdruck und Spielball der politischen Auseinandersetzungen. Das Wort von der "Verfassungsrealität" illustriert diesen nicht selten problematischen Vorrang politischer Interessen recht anschaulich.

Da Europas rechtliche Improvisationskunst sehr viel eher Österreichs politischer Kultur des Informellen und Provisorischen entspricht, verwundert es daher kaum, dass der Beschluss des ESM am Ende relativ reibungslos dank einiger Verhandlungskunst über die Bühne ging. In Karlsruhe müssen jetzt allerdings Richter, die den Buchstaben des Gesetzes verpflichtet sind, entscheiden. Indem die Politik verabsäumt hat, rechtzeitig die Rechtsordnung an die politischen Notwendigkeiten anzupassen, zwingt sie jetzt die Richter in die Rolle von Politikern. Auch das zeigt, wie ernst es um die Sache steht.