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Seit dem 9. Oktober wird in Russland die erste Volkszählung der postsowjetischen Epoche durchgeführt. Sie dauert noch bis morgen an, rund 500.000 Zähler nehmen in den unendlichen Weiten des Riesenreichs an der 160 Millionen Euro teuren Aktion teil. Das wichtigste Ergebnis ist allerdings im Voraus bekannt: Die Nation Russland stirbt aus. Überaus schnell und anscheinend unaufhaltsam.
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Im Jahr 2000 kamen in Russland 1,215 Millionen Kinder zur Welt. Im gleichen Zeitraum schieden 2,140 Millionen Russen dahin. In diesem Tempo - auf eine Geburt kommen praktisch zwei Todesfälle - läuft die Depopulation bereits seit Anfang der Neunzigerjahre. Seit 1992 hat das Land 5,8 Millionen Einwohner verloren - das ist, als ob Sankt Petersburg, Russlands zweitgrößte Stadt, völlig ausgestorben wäre
Für eine einfache Reproduktion, bei der die Einwohnerzahl konstant bleibt, müsste eine Frau im Laufe ihres Lebens logischerweise mindestens zwei Kinder zur Welt bringen. Nur in drei der insgesamt 89 "Bundesländer" der Russischen Föderation ist das der Fall. Sie liegen im Kaukasus. Indessen liegt die Zahl in Moskau bei 1,19 Geburten pro Frau, in Sankt Petersburg sind es sogar nur 0,95.
Pessimistische Prognosen
Keine der demografischen Prognosen, ob in- oder ausländische, verspricht dem Land, das heute 144 Millionen Einwohner zählt, eine Bevölkerungszunahme. Laut den pessimistischen Vorhersagen (die allerdings lediglich von den jetzigen Sterblichkeits- und Geburtenraten ausgehen) werden in 25 Jahren knapp über 100 Millionen Russen die eurasische Riesenfläche besiedeln. Mitte dieses Jahrhunderts wären es dann ungefähr 85 Millionen.
Schuld daran ist vor allem der russische Mann. Denn die Bevölkerung verringert sich zunehmend auf Kosten von Männern im Alter von 20 bis 49 Jahren. "Die gegenwärtigen demografischen Prozesse in Russland treten erstmals in einem Industrieland ohne Kriege und Epidemien auf", stellte die "New York Times" trocken fest.
Der russische Mann lebt heute im Durchschnitt etwa 60 Jahre, die russische Frau 13 Jahre länger - ein Gefälle, das man in keinem anderen Industrieland findet. In wenigen Jahren wird jede zweite verheiratete Russin von 45 Jahren Witwe sein.
Dabei hatte sich der Homo sovieticus in der Unfreiheit seines totalitären Reiches durchaus ordentlich vermehrt. "150,000.000!" - so betitelte Wladimir Majakowski 1921 sein Poem, zu dem ihn
das stolze Ergebnis der Volkszählung in Sowjetrussland inspirierte. Ende der 80-er Jahre wurde ein neuer Vermehrungsrekord aufgestellt: 280,000.000. Natürlich waren das nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Weißrussen, Kasachen, Usbeken, Tadschiken und rund 100 andere Nationalitäten. Im Ausland bezeichnete man jedoch diese sozialistische Arche Noahs vorwiegend als "Sowjet-Russland" - immerhin sprachen all diese großen und kleinen Völkerschaften Russisch.
Als die Unionsrepubliken nach dem Zerfall der UdSSR 1991 auseinander liefen, zählte Rest-Russland wieder nur noch 150 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Heute sind es eben knapp sechs Millionen weniger.
Haustier in Filzpantoffeln
Natürlich waren die Wechselbäder der Perestroika und Boris Jelzins "Schock-Therapie" in der Wirtschaft für die meisten Russinnen - insbesondere aber für die Russen - nicht gerade bekömmlich. War etwa die neue Herausforderung durch die Konkurrenz für den russischen Mann so fatal? Eins steht fest: In der Unfreiheit hat sich ein überwiegender Teil der Gattung anscheinend wirklich geborgener gefühlt. Die sozialistische Gleichmacherei hat zwar dem Mann die Freiheit geraubt, ihn aber auch zugleich vom Stress befreit, nach Profiten zu jagen.
In der Familie war er nicht der Ernährer, denn neun von zehn Sowjetfrauen waren genauso erwerbstätig und haben manchmal auch mehr verdient. Eine ehrfurchtgebietende Figur stellte der sowjetische Familienvater in der Regel nicht dar. Häufiger war er ein zahmes, kläglich-komisches Wesen, ein Haustier in Filzpantoffeln. Nur im Suff nicht ungefährlich.
Gewisse Freiheiten konnte der sowjetische Mann dennoch genießen. Schriftstellerin Maria Arbatowa, Vorreiterin des neuen russischen Feminismus, schrieb zur Rollenverteilung in der Sowjetehe: "Der Mann durfte sich Depressionen, Sauftouren und jahrelange innere Gespräche mit dem Staat gönnen, der ihn, wie er meinte, betrogen hätte. Die Frau als weniger politisiertes Wesen hat sich ausschließlich auf die hungrigen Kinderaugen und den leeren Kühlschrank konzentriert. Der Mann war der 'Sohn des Staates', die Frau die 'stillende Mutter'."
Der "Sohn des Staates" sah eine Kompensation für die Einschränkung seines individuellen Lebens in der Zugehörigkeit zur "bahnbrechenden Großmacht". Der Sowjetmensch glaubte, die Zukunft gepachtet zu haben, und herablassend lächelte er über den Westler und dessen kleinkariertes Konsumdenken.
Die Trümmer des Sowjetreiches zerquetschten jedoch das Ego des Homo sovieticus. "Keine andere Gruppe von modernen Individuen hat eine derart gewaltige kollektive Identitätskrise erlebt wie der russische Mann am Ende des 20. Jahrhunderts", schrieb die "Financial Times".
Jewgeni Gontmacher, Chef des Amtes Sozialpolitik im Regierungsapparat Russlands: "Selbst die schlimmsten Säufer glaubten in der Sowjetzeit sicher, sie würden immer eine Stelle als Schlosser oder Installateur finden. 1991 hat sich aber die Situation verändert. Eine Hälfte der Männer 'über 40' hat ihre Arbeit und damit auch ihre soziale Nische verloren und keine neue gefunden. Sie sind eine 'verlorene Generation'. Der ständige Stress provozierte viele Krankheiten, vor allem Herz- und Gefäßerkrankungen, an denen die meisten Männer in diesem Alter sterben. Diese Generation wird sich nicht mehr umstellen können, man muss ihnen höchstens helfen, das Rentenalter zu erreichen."
Steigende Selbstmordrate
Beeindruckend auch die russische Suizid-Statistik: 1938 lag die Selbstmordrate bei rund acht Fällen pro 100.000 Einwohner, 1992 waren es bereits 31 und 1997 über 40. 80 Prozent der Selbstmörder waren Männer. Die Zahl der Selbstmorde unter den Jugendlichen verdoppelte sich dabei in den letzten zehn Jahren auf 52 pro 100.000. Zum Vergleich: 1916 nahmen sich drei von jeden 100.000 Russen das Leben.
Zurück zum "Saufen": Mit rund 15 Liter reinen Alkohols pro Kopf (Säuglinge und alte Babuschkas mit einbegriffen) sind hier die Russen Weltmeister. Konkret ausgedrückt, würde das bedeuten, dass jeder Russe über 15 Jahre jährlich 160 bis 180 Flaschen Wodka trinkt.
Trinkende Eltern bekommen immer häufiger verkrüppelte Babys, der Anteil von Patienten mit Alkoholpsychosen hat sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt. Die jährliche Zahl der Alkoholtoten liegt bei 30.000 - doppelt soviel wie die UdSSR in zehn Jahren Afghanistan-Krieg verlor.
Eine andere Seuche, die nach der Wende ausbrach und vor allem die junge Generation traf, ist AIDS. Beim Tempo der AIDS-Verbreitung - 1.000 neu registrierte HIV-Infizierte pro Woche bei einer Dunkelziffer, die auf das fünf- bis zehnfache geschätzt wird - hat Russland inzwischen Afrika überflügelt und liegt an der Weltspitze. Etwa eine Million HIV-Infizierte hat das Riesenreich bereits, in den nächsten zwei bis drei Jahren werden sich laut Schätzungen bis zu fünf Millionen weitere anstecken. In rund 90 Prozent der Fälle handelt es sich um Drogenabhängige, von denen die absolute Mehrheit unter 30 ist.
Jeder zweite russische Junge, der heute 16 ist, wird das Alter von 60 Jahren nicht erreichen, behaupten Russlands Demoskopen.
Kindersterblichkeit
Hinzu kommt die gestiegene Kindersterblichkeit: von 1.000 Neugeborenen sterben rund 30 im Alter unter fünf Jahren. Da liegt Russland wesentlich näher an Albanien (40 pro 1.000), als an Frankreich mit neun oder Großbritannien mit sieben Todesfällen unter 1.000 Neugeborenen.
Außerdem enden zwei aller drei Schwangerschaftsfällen mit einer Abtreibung. 76 Prozent der Russinnen, die bereits ein Kind zur Welt brachten, wollen kein zweites. 96 von denjenigen, die zwei haben, planen kein drittes. Nach Ansicht des Moskauer Soziologen Wladimir Borissow würden aber die Geburtenraten in Russland "selbst wenn wir morgen den amerikanischen Lebensstandard hätten" nicht den für die Reproduktion erforderlichen Stand erreichen. Einer der Gründe dafür bestehe darin, dass Russlands Staat "nicht Kinder haben will, sondern Soldaten und Wähler". Bezeichnenderweise trägt das Hauptkapitel einer von der Regierung gebilligten Konzeption der demografischen Politik den Titel "Bedrohungen für die nationale Sicherheit, die sich aus der demografischen Situation ergeben". Nach den Worten von Arbeitsminister Alexander Potschinok würden "Russlands Armee bereits in sieben Jahren nicht mehr genügend Wehrpflichtige und Russlands Hochschulen nicht genügend Studenten haben".
"Die sinkende Lebenserwartung ist der qualitative Parameter der sinkenden Moral." Diese Formulierung stammt nicht etwa von einem Klostermediziner aus der Inquisitionszeit, sondern von einem heute lebenden Moskauer Medizinprofessor, der kürzlich im russischen Fernsehen zu vernehmen war. Der moralische Kern der marktwirtschaftlichen Reformen sei "satanisch und sündhaft". Denn diese führten den Menschen vom Altruismus zum Egoismus und von Solidarität zur Konkurrenz. Der Professor will bewiesen haben, dass die Mortalität an Herzinfarkt, Gehirnschlag oder Krebs - von Morden, Selbstmorden und Unfällen ganz zu schweigen - in jenen Regionen höher liege, die bei den Wahlen mehrheitlich für Reformer stimmen. Das Fazit: Freiheit sei für Russland tödlich.
Die "Pepsi-Generation"
Aber auch eine Diktatur droht Russland offenbar nicht - ebenfalls aus demografischen Gründen. Das behauptet zumindest der russische Soziologe Andrej Lasarenkow. "Der vielversprechenden liberalen Revolution 1991 ging die Puste aus, übrig blieben Enttäuschung und vergebliche Hoffnungen", schrieb er in der "Obstschaja gaseta". "Trotz aller Prognosen und falsch ausgelegten historischen Gesetzmäßigkeiten folgte dem jedoch keine Diktatur. Damit diese entstehen kann, muss zunächst die Jugend unbedingt in die Revolution einbezogen werden. In Russland ist aber eine völlig unpolitische, mit sich selbst beschäftigte 'Pepsi-Generation' aufgewachsen. Eine Diktatur wird es allein schon deshalb nicht geben, weil die Geburtenraten zu niedrig sind."