Der Entwurf für eine neue türkische Verfassung kann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden, befand ein Gericht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Fast zehn Stunden lang saßen die elf Richter beisammen. Sie prüften Seite um Seite, gingen Artikel um Artikel durch. Doch sie hatten nicht viel auszusetzen. Und als Gerichtspräsident Hasim Kilic dann endlich an die Öffentlichkeit trat, hatte er lediglich ein paar Details als ungültig zu erklären. Wichtige Details, aber eben nur wenige.
Es waren die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes in Ankara, die da zusammengekommen waren. Und sie hatten über etwas zu urteilen, was ein ganzes Land auf eine andere Grundlage stellen soll: eine neue Verfassung für die Türkei. Sie soll das alte Gesetz ersetzen, das nach einem Militärputsch 1980 verfasst wurde und noch dessen Geist atmet.
Die neue Verfassung ist ein Prestigeprojekt der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan - und etwas, was ebenso die Europäische Union von der Beitrittskandidatin fordert. Sie soll die Militärgerichtsbarkeit einschränken, Persönlichkeits-, Minderheiten- und Gewerkschaftsrechte stärken oder verfassungsrechtliche Grundlagen für bessere Chancen für Frauen in der Arbeitswelt schaffen.
*
Das Tauziehen um das Gesetzespaket währt seit Jahren, weil die Opposition im Parlament ihre Mitarbeit verweigert hat und die Regierungspartei AKP nicht über die Zweidrittelmehrheit verfügt, mit der das Dokument beschlossen werden muss.
Daher soll nun das Volk über die Verfassung entscheiden. Doch auch das passte der oppositionellen CHP nicht. Sie zog vor das Verfassungsgericht, wollte den gesamten Text anfechten.
Das Urteil der Richter fiel allerdings anders aus. Die befanden lediglich drei geplante Änderungen beim Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte - zuständig für deren Ernennung - sowie beim Verfassungsgericht selbst für ungültig. Sie wehrten sich gegen den Vorschlag, dass jene Institutionen, die Verfassungsrichter nominieren - wie etwa das Berufungsgericht -, jeweils nur einen Kandidaten anmelden dürfen. Ebenso stellten sie sich gegen den Plan, dass in einem erweiterten Hohen Richterrat auch Politologen oder Wirtschaftswissenschafter Platz nehmen könnten.
Der grundsätzliche Einspruch der Opposition wurde jedoch abgelehnt. So können die Türken wie geplant am 12. September in einem Referendum über das Dokument abstimmen.
Und die Kampagne dazu hat die CHP prompt eröffnet. "Wir werden mit nein stimmen", kündigte Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu gleich an. Denn die AKP-Pläne seien nicht die richtige Lösung für eine modernere Verfassung, auch wenn das Land eine solche brauche.
*
Seit Jahren schon, seit die AKP mit ihren islamischen Wurzeln an der Macht ist, wirft ihr die Opposition vor, den Laizismus in der Türkei schwächen und sämtliche Staatsorgane unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Die CHP selbst hingegen, die bis 1950 Staatspartei war, stellt sich als Hüterin der von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk propagierten Werte dar. Doch ist sie mit der Zeit zu einer nationalkonservativen Fraktion verknöchert, während die AKP etliche Reformen angestoßen hat, die für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei notwendig wären.
Allerdings orten auch andere Kritiker von Premier Erdogan einen Versuch der Regierung, ihre Macht noch weiter auszudehnen und nun auch die Judikative der Exekutive unterordnen zu wollen. Immerhin sehen die Kemalisten gerade die Gerichte als einige ihrer letzten Bastionen an.