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Proteste gegen sozialistischen Premier. | Parteienstreit am Nationalfeiertag. | Budapest. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben sich als tiefe Sorgenfalten in das Gesicht des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány eingegraben. Der Sturm der Entrüstung, der im vergangenen Herbst nach der Veröffentlichung seiner "Lügen"-Rede losgebrochen war, ist bis heute nicht abgeflaut. Damals war bekannt geworden, dass Gyurcsány vor Parteifreunden eingeräumt hatte, dass die Regierung dem Volk, aber auch der EU-Administration falsche Tatsachen über die Situation des Landes vorgespiegelt hatte.
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Seither wird Budapest in regelmäßigen Abständen von Demonstrationen und gewaltsamen Protesten heimgesucht - mit Vorliebe an Nationalfeiertagen, wie etwa am 23. Oktober, am 50. Jahrestag des Ungarnaufstands gegen die Sowjets. Oder wie am gestrigen 15. März, als der Rebellion gegen die Habsburger 1848/49 gedacht wurde und zahllose Gruppierungen zunächst friedliche Protestversammlungen in der Budapester Innenstadt abhielten.
Der Sozialist Gyurcsány wittert hinter dem Aufruhr üble Machenschaften seines politischen Gegners Viktor Orbán, dessen Träume von einer triumphalen Rückkehr an die Macht Gyurcsány mit seinem Wahlsieg im Vorjahr hatte zerplatzen lassen.
National oder radikal?
Laut Gyurcsány sei Orbán längst nicht mehr der von Demokratie beseelte Politiker, als den ihn die Ungarn Anfang der Neunziger Jahre kennen gelernt hätten. Vielmehr schaffe er es heute nicht einmal mehr, sich mit seiner national ausgerichteten Fidesz-Partei von den radikalen Hooligans zu distanzieren, die für die Exzesse der vergangenen Monate in erster Linie verantwortlich seien. Zuletzt setzte Gyurcsány noch eins drauf, indem er vor Antisemitismus warnte, der unter den Nationalen immer mehr an Bedeutung gewänne.
Der politisch unvoreingenommene Blick scheint Gyurcsány zu bestätigen. Orbán hat sich auf ein gefährliches Spiel mit dem Feuer eingelassen, indem er sich für einen Weg von der momentanen "demokratura" zu einer anderen Demokratie stark macht, von der außer ihm selbst wohl noch keiner eine genaue Vorstellung hat.
Es ist jedoch zu kurz gegriffen, sich allein auf Anwürfe gegen den politischen Gegner zu beschränken, wie es sowohl Gyurcsány als auch Orbán tun. Es ist schlichtweg zu einfach, wenn Gyurcsány im Ringen um eine Hausmacht für sein schmerzhaftes Reformprogramm zuerst auf die Opposition schaut und Orbán wiederum den Sturz der Regierung fordert, obwohl er trotz der Dringlichkeit der Probleme selbst keine Alternative anbieten kann. So besteht die Gefahr, dass die Politik den Kredit, den sie noch bei der Bevölkerung hat, verspielt.