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Rituelles Ringen um den Milchpreis

Von Hermann Sileitsch

Analysen

Die Zahl der Milchbauern ist 2007 erneut stark gesunken. | Große Zäsuren: Der EU-Beitritt 1995, das Auslaufen der Milchquote bis 2015. | Milchpreis derzeit hoch, aber die Kosten sind explodiert. | Boykottaufruf in Österreich, Betriebsblockaden und polizeiliche Räumungen in Deutschland, Milchkühe als Demobegleitung in der Schweiz: Die europaweiten Bauernproteste verschaffen einem scheinbar alltäglichen Produkt derzeit ungewöhnliche Aufmerksamkeit.


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Gerade wegen ihrer Alltäglichkeit besitzt Milch besondere Bedeutung für den Handel. Supermarktketten sehen Frischmilch als so genannten Frequenzbringer: Milch wird nicht auf Vorrat gekauft, weshalb der Konsument zuverlässig mehrmals pro Woche das Geschäft aufsucht.

Aktionspreise sorgen für Bauern-Aufschrei

Kein Wunder, dass die Handelsketten gerne mit Aktionspreisen werben würden: Das sorgt freilich umgehend für einen Aufschrei bei den Milchbauern. Denn wenn der Handel die Preise senkt, setzt er die milchverarbeitenden Betriebe unter Druck. Diese müssen den Preisdruck an ihre Lieferanten weitergeben. Da die großen Molkereien in Österreich in der Mehrzahl genossenschaftlich organisiert sind, sind die Milchbauern zugleich deren Eigentümer. Was nichts daran ändert, dass sich viele schlecht vertreten fühlen.

Kosten für Bauern sind dramatisch gestiegen

Warum sorgt der derzeit für die Bauern vorteilhafte, relativ hohe Erzeugermilchpreis für so vehemente Proteste? Jahrzehntelang standen die Begriffe Milchsee und Butterberg sinnbildlich für die Überproduktion der europäischen Agrarwirtschaft. Im Vorjahr kehrte sich dieses Bild plötzlich um: Indien und China hatten Milch als Gesundheitsgetränk entdeckt. "Ich habe den Traum", formulierte Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao, "jeden Chinesen, besonders unsere Kinder, mit einem halben Liter Milch am Tag zu versorgen." Die Nachfrage nach Milchpulver schoss dadurch in die Höhe. Zudem verknappte eine Dürre in Australien das Angebot. Aus der eklatanten Überproduktion war mit einem Mal ein Nachfragemarkt geworden.

Auch heuer setzte sich der Höhenflug des Milchpreises im ersten Quartal fort. Allerdings hatten in der Zwischenzeit die Produktionskosten drastisch angezogen. All jene Teuerungen, unter denen die Konsumenten stöhnen, betreffen die Bauern in besonderem Maß: Die Kosten für Futter- und Düngemittel sind analog zu den Treibstoffpreisen geradezu explodiert.

Der attraktive Milchpreis tat sein Übriges: Die Produktion wurde weltweit angekurbelt, das Überangebot ließ den Preis im April und Mai 2008 wieder absacken.

Die aktuelle Situation muss aber auch vor dem Hintergrund des langfristigen Wandels gesehen werden: Die Milchwirtschaft in Österreich und in der Europäischen Union verändert sich dramatisch. Der EU-Beitritt 1995 brachte nicht nur den Erzeugermilchpreis zum Absturz (siehe Grafik), sondern auch viele der damals rund 80.000 heimischen Milchbauern dazu, die Kanne an den Nagel zu hängen: Ihre Zahl hat sich seither fast halbiert. Und sie sinkt weiter - im Vorjahr von 45.800 auf 43.500.

Auslaufen der Quote lässt Preis sinken

Und schon schleicht sich die nächste große Zäsur für die Milchwirtschaft an: Denn mit 31. März 2015 ist die Milchquotenregelung befristet. Die Europäische Kommission hat bereits deutlich gemacht, dass sie keine Verlängerung anstrebt. Im Gegenteil: Schon jetzt soll die Produktionsmenge Jahr für Jahr ausgeweitet werden - wodurch die Preise erwartbarerweise sinken werden.

Länder wie die Niederlande, Italien, Dänemark und Polen können sich eine zwei- bis dreiprozentige Quotenerhöhung vorstellen. Landwirtschaftsminister Josef Pröll hält bereits eine Ausweitung um ein Prozent für zu hoch. "Wohin das führt, sieht man jetzt bei der negativen Preisentwicklung", so der Minister. Eines steht fest: Der Druck auf die Milchbauern wird nicht geringer.

Kurioses Detail am Rande: Just jenes Milchprodukt, das am stärksten boomt, wird die Bedeutung von Frischmilch im Handel längerfristig schwächen: 2007 entfielen bereits 22,7 Prozent des heimischen Trinkmilch-Umsatzes auf so genannte ESL-Milch ("extended shelf life"). Diese hocherhitzte Milch schmeckt frischer als Haltbarmilch, hält aber deutlich länger als herkömmliche Frischmilch.

Für den Konsumenten geht dadurch ein Anreiz verloren, öfter in den Supermarkt zu gehen. Und die Bauern müssen immer längere Lieferstopps durchhalten, bevor der Konsument vor leeren Regalen steht.

analyse@wienerzeitung.at