In Österreich hat ein Viertel der Kinder eine andere Umgangssprache als Deutsch - zu Hause sprechen viele von ihnen mehrere Sprachen. Experten fordern Anerkennung für diese Kompetenz.
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An den Deutschkenntnissen der Schülerinnen und Schüler entzünden sich politische Debatten. Statistisch gesehen hat nämlich in Österreich ein Viertel der Kinder und Jugendlichen eine andere Umgangssprache als Deutsch, in Wien sind es sogar 50 Prozent. Das bedeute allerdings nicht, dass diese jungen Menschen Deutsch schlecht beherrschen, betonten Wissenschafter der Universität Wien vor Journalisten am Mittwoch. Ihre Forschungsergebnisse präsentierten sie im Vorfeld des Tags der Muttersprachen am Freitag bei einer Veranstaltung von "Diskurs. Das Wissenschaftsnetz". Von der Politik fordern sie, Mehrsprachigkeit als Kompetenz anzuerkennen und dieser im Unterricht einen höheren Stellenwert einzuräumen.
Die Ergebnisse: Schüler, die laut Statistik "zu Hause" eine andere Sprache nutzen, würden tatsächlich je nach Gesprächspartner verschiedene Sprachen einsetzen, verwies die Soziologin Veronika Wöhrer auf die von ihr miterarbeitete Längsschnittstudie "Wege in die Zukunft". Befragt wurden 3000 Schülerinnen und Schüler der letzten Klasse der Neuen Mittelschulen in Wien - das ist etwa die Hälfte des Jahrgangs. Themen waren unter anderem Schule, Bildung, Freunde, Familie, Zukunftsvorstellungen oder Freizeit.
"Oft wird daheim nicht eine, sondern es werden mehrere Sprachen gesprochen", sagte Wöhrer. Kinder reden mit verschiedenen Familienmitgliedern andere Sprachen - etwa mit dem Vater Türkisch und mit Mutter und Schwester Deutsch, "weil es einfacher ist", gibt ein 17-jähriges Mädchen zu Protokoll. Da sie Deutsch im öffentlichen Leben höre, falle es ihr mittlerweile leicht. Andere geben an, je nach Kontext auf Deutsch, Deutsch-Türkisch, Türkisch oder auch Englisch, respektive auf Serbisch, Kroatisch oder Bosnisch und wiederum Deutsch zu kommunizieren. 93 Prozent der Jugendlichen berichten, dass sie mit Gleichaltrigen in der Schule und in der Freizeit Deutsch sprechen, während 50 Prozent sagen, sich mit den Eltern in der jeweiligen Erstsprache zu verständigen. Viele junge Menschen nutzen zudem die Erstsprache wieder öfter, wenn sie das Gefühl haben, im Deutschen trittsicher zu sein.
Zusätzliche Kompetenzen besitzen mehrsprachige Jugendliche in Vermittlung und Übersetzung. Sie übersetzen für die Eltern bei Ämtern und helfen kleineren Geschwistern mit Hausübungen oder den Eltern mit Aufgaben für Deutschkurse. Gleichaltrige Schüler unterstützen einander beim Spracherwerb. "Wenn aber alle Kinder mit Deutsch-Defiziten in einer Deutschförderklasse zusammenkommen, wer hilft ihnen dann?", zitierte Soziologin Wöhrer eine oftmals formulierte Kritik.
Derzeit unterrichte eine einzige Lehrkraft bis zu 28 Kinder und Jugendliche völlig unterschiedlicher Erstsprachen in einer Deutschförderklasse. "Das hat Auswirkungen auf das soziale Gefüge. Manche Schüler fühlen sich ins Abseits gestellt", hob Hannes Schweiger vom Institut für Germanistik hervor. Würden die Klassen verkleinert und in der Didaktik die Ausgangslagen der Schüler mit zum Thema gemacht, könnten größere Lernfortschritte im Allgemeinen erzielt werden. Erstsprachen müssten mit Deutsch und dem Fachunterricht stärker verschränkt werden, damit die im Alltag gelebte und im Lehrplan verankerte "lebenszeitliche Mehrsprachigkeit" im Unterricht ankommen könne. "Insbesondere Pädagogen benötigen Ressourcen und Rahmenbedingungen."
Nur Deutsch wird abgefragt
Demgegenüber gibt die Mehrheit der Schüler an, nicht das Gefühl zu haben, dass ihre Mehrsprachigkeit von der Schule honoriert wird. "Es ist etwas, worüber sie nicht sprechen", erklärte Wöhrer: "Die Kompetenzen, die sie mitbringen, werden wenig abgefragt, während sie das Gefühl haben, dass ihre Defizite im Deutschen genau festgemacht werden." Auch die sozialen Kompetenzen würden nicht gesehen, "obwohl wir in einer Gesellschaft leben, in der Migration einfach dazu gehört, und obwohl wir global vernetzt leben."
Die Erstsprache sei die Basis für alle weiteren Sprachen, betonte Alexandra Wojnesitz, Fachdidaktikern am Institut für Romanistik und Vorsitzende des Österreichischen Verbands für angewandte Linguistik. Immerhin könne man kein Haus auf einem brüchigen Fundament errichten. Dazu, wie die Erstsprachen der Schüler als Ressource genutzt werden können, gebe es gute Konzepte, etwa das vom Bildungsministerium beauftragte "Curriculum Mehrsprachigkeit". Allerdings müsse man "die tollen vorhandenen Konzepte auch in der Praxis umsetzen".