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Der deutsche Schriftsteller Rolf Schneider über Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der DDR und seinen teilweise in Wien angesiedelten Generationenroman "Marienbrücke".
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Wiener Zeitung: Herr Schneider, Sie waren mit der Kunst und Geschichte Österreichs so vertraut wie kein anderer DDR-Autor. Ihnen wurden einige Brücken nach Österreich gebaut, als Sie daheim in Schwierigkeiten kamen. Rolf Schneider: Die Schwierigkeiten waren nicht unerheblich. Sie betrafen mehr meine Familie als mich persönlich - der ich ja einen Namen hatte, und die Behörden wussten, dass sie, wenn sie an mich herangehen, Schlagzeilen im Ausland provozieren würden. Friedrich Torberg war einer meiner guten alten Wiener Freunde, der leider, wie auch Hans Weigel, nicht mehr lebt. Er hat mir immer wieder gesagt: "Komm, mein Rölfchen, wir machen dir hier ein goldenes Bett." Aber erstens hatte ich Misstrauen, mich in ein goldenes Bett zu legen, und zweitens hat mich eine Menge höchst privater Verschränkungen gehindert - und auch ein gewisser Trotz. Was sollte ich ohne meine Feinde anfangen?
Woher rührt ihr besonderes Verhältnis zu Österreich?
Ich bin relativ früh am Burgtheater gespielt worden, mit "Prozess in Nürnberg". Das war Ende der sechziger Jahre, damals bin ich das erste Mal nach Wien gekommen. Zuvor hatte ich über einen Autor der klassischen österreichischen Moderne promovieren wollen, in den ich mich schon als Student verliebt hatte: Robert Musil. Mein Doktorvater hieß Hans Mayer. Meine Dissertation war fast fertig, da zog Mayer es vor, von einem Bayreuth-Besuch 1963 nicht mehr in die DDR zurückzukehren.
Was geschah dann mit der Dissertation?
Ich habe 1975 die erste Robert-Musil-Ausgabe der DDR veranstaltet, der Text der Dissertation war der Kommentar dazu. Das alles hat dann dazu geführt, dass ich, zum Teil über die Botschaft der Republik Österreich in der damaligen DDR, eine noch engere Verbindung zu Österreich bekam. Ich habe die Veränderung Wiens von einem etwas ärmlichen Gemeinwesen bis zu seiner heute überbordenden Prosperität staunend und respektvoll miterlebt. Ich unterhalte ein Liebesverhältnis zu Wien. Ich kenne die Stadt fast besser als Berlin.
Sie haben schon drei deutsche Staaten bewusst erlebt, und zwei davon überlebt. Welcher historische Augenblick hat sie glücklich gemacht, ein Deutscher zu sein, und welcher war ihr schlimmster?
Ich habe das Frühjahr 1945 als Moment der Erlösung erlebt. Dies hing damit zusammen, dass ich aus einem antifaschistischen Elternhaus komme, mit entsprechenden Konsequenzen geheimpolizeilicher Art. Ich stand damals auf der Kippe zwischen Kindsein und Jugendlichkeit, ich machte die rauschhafte Erfahrung einer fast unbeschränkten Freiheit. Die hat ungefähr ein Dreivierteljahr gedauert, dann zog die neue Ordnung mit ihren Pressionen ein.
Und die schwärzeste Stunde?
Das Scheitern des 17. Juni 1953, des ersten Volksaufstandes in einem kommunistischen Land, niedergewalzt von sowjetischen Panzern. Er war eine Volksbewegung, die auf Demokratisierung und auf die deutsche Einheit abzielte.
Sie sind damals nicht wie Hunderttausende in den Westen gegangen. Behielten Sie noch Hoffnungen?
Ja. Unglaublicherweise. 1956 war ich Mitarbeiter des Berliner Aufbau-Verlags, eines führenden Editionshauses in der DDR. Wir diskutierten heimlich die Wege zu einer Absetzung des Diktators Walter Ulbricht. Wir erstrebten ein alternativ demokratisch-sozialistisches Programm für die DDR. Die Schlüsselfiguren hießen Walter Janka und Wolfgang Harich, der eine Verlagsdirektor, der andere stellvertretender Cheflektor. Beide sind dann verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die Sache deckte sich zeitlich mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes. Spätestens damals war mir klar, dass jene Art Sozialismus, dem ich ursprünglich eine Chance eingeräumt hatte, sich nicht verwirklichen ließ. Der Rest war nur mehr eine lange Leidensgeschichte.
In Ihrem Roman "Marienbrücke" hat die Hauptfigur, der Kunsthistoriker Jacob Kersting, einen Vater mit einer besonderen proletarischen Tradition: Er ist ein Anarcho-Syndikalist. Die bringt ihn nach 1945 in Konflikt mit der Sowjetbesatzung und der SED. Eine durch und durch positive Figur - und wohl auch für den politischen Menschen Schneider eine Identifikationsfigur?
In ihr ist viel von meinem eigenen Vater, der ein ähnliches Schicksal hatte. Daneben war mir wichtig, diesen Abschnitt der proletarischen Geschichte zu erwähnen. Es gibt eine zwar schmale, doch durchaus wahrnehmbare anarchistische Tradition in der deutschen Arbeiterbewegung. Sie geht unter anderen auf Max Stirner aus Bayreuth zurück, der 1844 das Buch "Der Einzige und sein Eigentum" geschrieben hat. Sie geht auch zurück auf Michail Bakunin, den großen Theoretiker des Anarchismus und erbitterten ideologischen Widersacher von Karl Marx - die Feindschaft war wechselseitig. Es haben anarchistische Traditionen in ganz Europa existiert.
Hat sich dieser von Philosophen begründete Anarchismus in Deutschland festsetzen können?
Er war dort niemals mächtig. Es gehörten ihm ein paar prominente Literaten an, Gustav Landauer und Erich Mühsam. Die kurzlebige Münchner Räterepublik von 1919 war auch anarchistisch inspiriert. Und dann gab es Max Hoelz, den mein Roman erwähnt. Der hat nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dreimal anarchistische Aufstände organisiert und eine anarchistische Ordnung probiert; jedes Mal ist er gescheitert. Er selbst wurde verurteilt und begab sich nach seiner Freilassung in die Sowjetunion, wo er umkam: vermutlich ermordet auf Stalins Befehl.
Der Generationenroman als Epochenroman: Österreich hat seinen "Radetzkymarsch" von Joseph Roth; in Deutschland drückt das Vorbild Thomas Mann jeden Autor nieder. Wer hat, so wie Sie, die sieben Jahrzehnte von den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg bis zur deutschen Wiedervereinigung in solch großer Form darzustellen versucht?
In dieser Konsequenz wohl keiner außer mir. Abschnitte davon kommen natürlich auch anderswo vor, bei Christa Wolf oder Ingo Schulze. Der große Geschichtsbogen ist, glaube ich, in "Marienbrücke" das erste Mal versucht worden.
Wie lang haben Sie dafür gebraucht?
Ich habe mit der Arbeit an dem Tag angefangen, an dem mein Held in Berlin den Eisenbahnzug nach Wien besteigt: am 1. Februar 1988. Das Manuskript war bis Herbst 1989 zu einem Viertel gediehen. Am 9. November nahm ich an einer Verlagsfeier des Zsolnay Verlags teil; den Fall der Berliner Mauer erlebte ich abends in einem Wiener Hotel, durch Sendungen des Österreichischen Rundfunks. Unmittelbar danach hatte ich das Bedürfnis, mich erst einmal den Aktualitäten zuzuwenden, was dann auch geschehen ist, mit vielerlei Publizistik. Vor vier Jahren hatte ich den Eindruck, ich müsse die Arbeit am Roman endlich zu einem Abschluss bringen.
Viele berühmte DDR-Autoren mit unterschiedlichen Varianten von Anpassung oder Widerstand, von Stephan Hermlin bis Adolf Endler, sind schon tot, und Sascha Anderson, der "Szeneclown" vom Prenzlauer Berg, der als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurde, ist auch schon 56.
Ich mache die Rechnung anders auf. Wir waren zwölf, als wir die Petition zugunsten des ausgebürgerten Wolf Biermann entworfen und unterzeichnet haben. Von den Zwölfen sind sechs nicht mehr am Leben. Seit der Biermann-Petition sind 33 Jahre, seit dem Mauerfall zwei Jahrzehnte vergangen. Zeitabstände, die beängstigend anwachsen, ich sehe es voll Melancholie.
Sie engagierten sich anfangs der achtziger Jahre mit einem großen Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" für die Rettung des Sanatoriums Purkersdorf von Josef Hoffmann, also jenes Künstlers, dessen Leben und Werk zu erforschen ihr Romanheld Jacob Kersting nach Wien reist.
Ich habe meinen damaligen Ausflug nach Purkersdorf und den Anblick der Ruine in "Marienbrücke" übernommen. Ich denke, mein Artikel in der "Süddeutschen" war einer der Anstöße, dass der Bau gerettet und wieder hergestellt worden ist.
Ihr Held Kersting merkt erst bei seinen Forschungen in Wien, dass ihm die moderne Programmatik von Adolf Loos nähersteht als Hoffmanns dekorative Kunst. Kersting ist immer mehr enttäuscht von Hoffmann - der zuletzt für NS-Bauherren gearbeitet hat.
Der Gegensatz Hoffmann-Loos dient mir vor allem dazu, die Unentschiedenheit meines Helden zu illustrieren. Kersting schwankt fortwährend zwischen zwei Möglichkeiten. Soll er im Westen bleiben oder nach Hause gehen? Soll er mit der DDR innerlich und äußerlich seinen Frieden machen, oder mit ihr brechen? Diese Unentschiedenheit charakterisiert nicht nur ihn, sondern das intellektuelle Milieu der späten DDR insgesamt.
Was erlebt Jacob Kersting in Wien, wo er ja zuletzt bei der Marienbrücke über den Donaukanal den Tod sucht?
Er erlebt die damalige politische Gegenwart. Er sieht, dass die Zweite Republik Österreich mit der DDR manches gemeinsam hat, doch weder die Österreicher noch die DDR-Leute nehmen es wahr. Auch die Zweite Republik Österreich kam aus der Konkursmasse von Adolf Hitlers Großdeutschem Reich, und wie die DDR war sie gegenüber der großmächtigen Bundesrepublik Deutschland einer von zwei kleinen deutschsprachigen Staaten, mit entsprechenden Empfindungen der Minderwertigkeit. Beide, DDR und Österreich, hatten sinnliche Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Beide, aber das verband sie dann wieder mit der alten Bundesrepublik Deutschland, hatten eine braune Vergangenheit aufzuarbeiten - mit wechselndem Erfolg und wechselnder Ehrlichkeit. 1988 war in Wien das "Bedenkjahr", das Erinnern an die Ereignisse des Anschlusses von 1938. Dieses Jahr erbrachte eine Menge Sonderbarkeiten, die heute ziemlich vergessen sind. Die Grenzen zwischen Gegenwart, Zeitgeschichte und Historie weichen ständig zurück. Vielleicht ist es nicht der schlechteste Zweck von schöner Literatur, ihre ursprünglichen Ausmaße ins Gedächtnis zu rufen.
Zur Person
Rolf Schneider, geboren 1932 in Chemnitz, war Redakteur der kulturpolitischen Zeitschrift "Aufbau" in Berlin. Seit 1958 ist er freier Schriftsteller.
Schneider war einerseits als Verfasser von Hörspielen und Theaterstücken ein regimetreuer DDR-Autor, andererseits nahm er schon früh an Tagungen der "Gruppe 47" teil und hatte die Möglichkeit, ins westliche Ausland zu reisen. 1976 gehörte er zu den Unterzeichnern der Protestresolution von DDR-Autoren gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, woraufhin seine Publikationsmöglichkeiten in der DDR stark eingeschränkt wurden. 1979 erfolgte sein Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR. Schneider arbeitete in den folgenden Jahren vorwiegend als Theaterautor und Dramaturg an den Stadttheatern von Mainz und Nürnberg. Nach dem Mauerfall hat sich Rolf Schneider vehement für eine kritische, nicht nostalgische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eingesetzt. Schneider lebt heute in Schön-eiche bei Berlin.
Hans Haider, geboren 1946, lebt als Kulturjournalist und Publizist in Wien. Theater- und Architekturkritiker der "Wiener Zeitung".