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Rollentausch

Von Christina Mondolfo

Wissen

Frauen in Männerrollen und umgekehrt - eine Selbstverständlichkeit auf der Bühne. Doch was heute oft im Sinne von Verkleidung zu sehen ist, hatte in den Anfängen des Theaters ganz andere Hintergründe.


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Dem berühmten Kastraten Farinelli (eigentlich Carlo Broschi) widmete Regisseur Gérard Corbiau 1994 einen Film. In der Hauptrolle überzeugte Stefano Dionisi.

Seit es Theater gibt, werden die Stücke von männlichen und weiblichen Figuren bevölkert. Doch die Darsteller waren bis weit ins 17. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich Männer - Frauen hatten auf der Bühne nichts zu suchen. Öffentliche Auftritte dieser Art waren ihnen aus gesellschaftlichen Konventionen sogar untersagt, ein Verbot, das sich auf Englands Sprechtheaterbühnen bis 1660 hielt. Die Oper machte diesbezüglich jedoch schon frühzeitig Ausnahmen.

In mühevoller Kleinarbeit hat die Musikwissenschafterin Kordula Knaus alles zusammengetragen, was sich über die Besetzungspraxis der älteren Operngeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts finden ließ (siehe dazu den Buchtipp). Dass sich allerdings in den Anfängen der Oper kaum Frauen auf den Besetzungslisten finden, hat mehrere Gründe, unter anderem auch den, dass aus der Frühzeit der Oper kaum solche Listen existieren. Und so wie für das Theater galt auch für die Oper, dass Frauen auf der Bühne nicht erlaubt waren - ein Verbot, das die Kirche verhängt hatte. Allerdings konnte sie ihren Einfluss nur in einigen Städten geltend machen, andere missachteten diese Regelung relativ rasch: Im Gegenteil, vielerorts erkannte man frühzeitig, dass Frauen auf der Bühne sogar ein gewisser Erfolgsgarant waren - das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums überwog also moralische Bedenken. Dass trotzdem anfangs nahezu alle weiblichen Rollen von Männern gesungen wurden, lag daher wohl auch daran, dass es im 16. Jahrhundert noch keine dezidierte Ausbildung zum Opernsänger gab und die Sänger daher aus den Kirchenchören rekrutiert wurden. Wo es - wie bekannt - aufgrund des kirchlichen Verbots keine Frauen gab . . .

Tatsache ist, dass die italienische Oper von Anfang an eine große Affinität zu hohen Stimmen hatte und männliche Rollen daher auch für hohe Stimmen geschrieben wurden, was sie natürlich für Kastraten prädestinierte. (Ganz anders in Frankreich: Hier wurden von Anfang an Frauen auf der Bühne eingesetzt und die Partien auch für Sängerinnen geschrieben, Kastraten gab es nicht.) Doch auch bezüglich der handelnden Personen, die hauptsächlich allegorische Figuren waren - je majestätischer, desto höher die Stimme -, und der Gefühlsdarstellung bzw. -wahrnehmung unterlag die frühe Oper anderen Regeln als heute. Ist sie ab dem späten 18. Jahrhundert eine von Emotion und Dramatik getragene Kunstgattung, bezogen sich die Affekte der frühen und barocken Oper mehr auf den kunstvollen Gesang und die Bühneneffekte denn auf die Darstellung der Sänger. Somit waren sie für die Handlungspersonen beider Geschlechter noch in gleicher oder ähnlicher Weise darstellbar, erst später werden männliche und weibliche Figuren in ihrer Emotionsäußerung zunehmend differenziert. Für Knaus heißt dies daher, dass die Besonderheit in der Oper im frühen 17. Jahrhundert nicht darin bestand, dass Männer in Frauenrollen zu sehen und hören waren, sondern dass überhaupt Frauen auf der Bühne standen. Dieser Faktor des Außergewöhnlichen verschiebt sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Richtung Männer in Frauenrollen, womit sich auch die Figurenkonzeption und die Ästhetik der Darstellung verändern.

So wie im Sprechtheater, besonders in der Commedia dell’Arte, gab es auch in der frühen Oper keine Tradition von Frauen in Männerrollen im Sinne einer Konvention oder eines Rollentypus. Der Mangel an vollständigen und verlässlichen Besetzungslisten lässt jedoch nur die Feststellung von Tendenzen zu. Knaus will jedoch nicht ausschließen, dass Mädchen oder junge Sängerinnen sehr wohl als allegorische Figuren oder Pagen auftraten.

Eines der frühesten gesicherten Beispiele für die Besetzung einer Männerrolle mit einer Frau ist eine Aufführung von Alessandro Scarlattis "Pompeo" aus dem Jahr 1684 im Real Palazzo in Neapel: Hier sang Maria Rosa Borrini die Rolle des Claudio. Doch auch wenn ab etwa diesem Zeitpunkt die Häufigkeit der Besetzung einer Männerrolle durch eine Sängerin zunahm, so waren es nicht die Hauptrollen, die ihnen zugewiesen wurden - diese waren immer noch meist Kastraten vorbehalten. Den Frauen fiel die Rolle des "secondo" oder "terzo uomo" zu. Doch Mitte des 18. Jahrhunderts verschwand die Frau in der Männerrolle wieder nahezu gänzlich aus der Opera seria, also der ernsten Oper. Wie übrigens auch aus der komischen Oper . . .

Den kurzfristigen Erfolg von Sängerinnen in Männerrollen führt Knaus auf die bereits erwähnte Vorliebe der italienischen Oper für hohe Stimmlagen zurück, aber auch auf die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Lockerung des strengen Verhaltenskodex für Frauen. Außerdem nahm die Überzahl an männlichen Rollen in der Oper ab, wenn auch damit nicht einhergeht, dass die Zahl der weiblichen Rollen markant erhöht wurde. Eine interessante Perspektive ist allerdings auch das Körperbild und der Zusammenhang mit dem Image einer Sängerin: Das Singen erzeuge Hitze, die dem damals als kalt und feucht gedachten weiblichen Körper widersprach und damit sexuelle Aktivität vermittle, so die gängige Lehrmeinung. Diese Sexualisierung sieht Knaus durchaus als möglichen Grund für die Übernahme männlicher Rollen durch Sängerinnen. Und das Zeigen der Beine, das mit weiblicher Kleidung nicht möglich war, übte wohl einen zusätzlichen Reiz auf die männlichen Zuschauer aus . . .

Die Besetzung einer männlichen Rolle mit einer Sängerin setzt Knaus übrigens nicht gleich mit dem Typus der Hosenrolle: Die Bearbeitungspraxis und Figureninterpretation der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts sah kein männliches Rollenkonzept vor, das für eine Sängerin intendiert war. Anders dagegen etwa der Cherubino aus Wolfgang Amadeus Mozarts "Le nozze di Figaro" - die Rolle eines von einer Sängerin interpretierten Pagen, der sich als Mädchen verkleidet.

Was uns heute jedenfalls seltsam erscheinen mag, nämlich Männer in Frauenrollen und umgekehrt auf der Opernbühne zu sehen, sofern es sich nicht um bewusst eingesetzte Verkleidung handelt, war im 17. und 18. Jahrhundert offenbar eine allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit. Und so erweist sich die Reise in die Anfänge der Oper und des damals gebräuchlichen Cross-gender-Castings vielmehr als spannender Ausflug in die Konventionen längst vergangener Jahrhunderte.

Artikel erschienen am 20. April 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 10-11

Buchtipp:

Kordula Knaus: "Männer als Ammen - Frauen als Liebhaber. Cross-gender, Casting in der Oper 1600-1800", Franz Steiner Verlag, 49,40 Euro.