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Unsichtbar und von den Behörden ignoriert leben Hunderte Bootsflüchtlinge in einem vermüllten Hochhaus am Rande von Rom.
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Rom. Gespenster sind unsichtbar. Aber jetzt, wenn man die zwei Treppen aus der grellen römischen Julisonne hinunter in dieses Loch gestiegen ist, bewegt sich doch etwas. Ein paar Schatten huschen am Ende des riesigen Raums vorbei. Wasser plätschert aus einem Rohr. Überfüllte Müllsäcke liegen herum, achtlos zu Boden geworfene Plastikbecher, daneben ein paar Flaschen. Dazu gesellt sich der beißende Geruch von Urin. Im Halbdunkel sind die Gerippe alter Autokarosserien zu erkennen. Dann wieder nur Dunkel und Stille.
Vorsichtig setzt man einen Fuß vor den anderen, blickt zu Boden, um nicht über irgendwelchen Schutt zu stolpern oder in nicht näher bestimmbare Pfützen zu treten. Matratzen sind zu erkennen, überall. Dann plötzlich auch kleine weiße Blitze in der Finsternis. Es sind Augen, argwöhnische Blicke aus dem Dunkeln. Das müssen sie sein. "Hedertena", Gespenster. So haben die Bewohner des Palazzo Salaam die Geschöpfe aus der Unterwelt in ihrer Heimatsprache Tigrinya getauft.
Halb verdurstet und verhungert
Bevor sie unsichtbar werden, bekommt man die klapprigen Gestalten immer wieder zu sehen, im Fernsehen oder auf Fotos in den Zeitungen. Als Bootsflüchtlinge, die auf einer lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer ihr Leben riskierten. Etwa 85.000 waren es allein in diesem Jahr, so viele wie nie zuvor. Hunderte von ihnen haben in den vergangenen Wochen nach der Überfahrt den Palazzo Salaam angesteuert. Halb verdurstet und verhungert, viele mit aufgeplatzter Haut, die Kleider noch mit Öl und Benzin von den Schiffen getränkt. Hier, in der Garage eines Hochhauses am Stadtrand von Rom, ruhen sie sich nun aus. Die meisten versuchen später in Richtung Norden weiter zu ziehen. Unsichtbar für die Welt schlafen und warten sie auf ihren schäbigen Matratzen. Im Dunkeln zwischen Autokadavern, Ratten und Dreck beginnt ihr neues Leben in Europa.
Moussa Dika ist ans Tageslicht hervorgekrochen. Auf seinem Kopf trägt er noch die Militärkappe, die er seit den Tagen in Libyen dabei hat. Hinter ihm ragt unwirklich der Palazzo Salaam wie ein bläulich schimmerndes Raumschiff mit verspiegelten Fenstern in den Nachmittagshimmel. Antennen, Kabel, Satellitenschüsseln ragen aus dem Rumpf des Haues. Die offenen Fenster wirken wie die Löcher in einem von innen schimmelnden Laib Käse. Moussa ist erst seit drei Tagen in Rom. "Hier bin ich sicher", sagt er.
Viel mehr als sicher ist Moussa allerdings nicht. Er ist 26 Jahre alt, hat seine Frau sowie seinen zweijährigen Sohn und seine fünf Jahre alte Tochter in Afrika zurück gelassen. Nach monatelanger Flucht, zweitägiger Überfahrt über das Meer ist er auf Sizilien gelandet, zusammen in einem Kutter mit 700 anderen Flüchtlingen, von denen 37 auf der Überfahrt an den Abgasen im Schiffsrumpf erstickten. Beinahe teilnahmslos spricht er über diese Tragödie. Jetzt steht er ratlos in der römischen Peripherie. Früher hat er als Fleischhauer gearbeitet. "Gibt es auch in Deutschland Fleischhauer?", fragt er. Er weiß noch nicht, wohin mit sich. Erst einmal ausruhen. Essen, trinken, die Gedanken sammeln.
Palazzo heißt eigentlich Palast. Salaam bedeutet Frieden. Aber dieses Haus, das man nur mit einer gehörigen Portion Zynismus als Palast des Friedens bezeichnen kann, umgeben von der Trostlosigkeit eines tosenden Autobahnrings, eines ausgestorbenen Parkplatzes und eines Einkaufszentrums, ist das Symbol für ein großes Mit-den-Schultern-Zucken. Italien und Europa überlassen die Flüchtlinge hier ihrem eigenen Schicksal. Es gibt zahlreiche Orte wie den Palazzo Salaam in Italien.
Enttäuschte Erwartungen
Vor neun Jahren besetzten 250 Flüchtlinge zwei Stockwerke des Hochhauses, auf dessen Gängen einst Literaturstudenten einer römischen Universität wandelten. Vor zwei Jahren waren es bereits 800 Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten Ostafrikas, die hier ständig Unterschlupf suchten, weil sie sonst auf der Straße gelandet wären. Jetzt, wo immer mehr Migranten an den italienischen Küsten landen, leben an manchen Tagen bis zu 2000 Menschen, darunter ein Drittel Frauen, in dem Gebäudekomplex. 95 Prozent von ihnen sind politisch oder religiös verfolgt und haben Anrecht auf Asyl oder internationalen Schutz. Der baufällige Palazzo platzt aus allen Nähten.
Im Hochhaus leben Menschen aus Eritrea, Äthiopien, Somalia und dem Sudan. Das Zusammenleben dieser Bevölkerungsgruppen auf acht Stockwerken, in improvisierten Schlafstätten und prekären hygienischen Verhältnissen funktionierte bisher irgendwie. Jeweils 20 Menschen teilen sich eines der stinkenden Stehklos, mehr als 30 eine Dusche. Heizungen oder fließendes heißes Wasser gibt es nicht. Mit dem Andrang in den vergangenen Monaten hat sich die Lage zusätzlich verschlechtert. "Sie kümmern sich einen Scheißdreck um das Haus, machen alles kaputt und dreckig", beschwert sich Said Hussen über die Neuankömmlinge. Said ist 32 Jahre alt, kommt aus Äthiopien und lebt seit acht Jahren im Palazzo Salaam. Aber Said weiß, wie man sich fühlt, wenn man gerade dem Tod von der Schippe gesprungen ist. "Sie sind enttäuscht", sagt er. "Sie kommen hier in Europa mit großen Erwartungen an und müssen dann in einer stickigen Garage schlafen."
Nur keine Fingerabdrücke

Als der Ansturm besonders groß war, breiteten sich auch unter den angestammten Bewohnern Krankheiten aus, vor allem Krätze. Seither wird niemand mehr in den oberen Stockwerken aufgenommen, abgesehen von Frauen mit Kindern. Die Garage funktioniert als Quarantänestation, mit der Ausnahme, dass sich niemand um die Aussätzigen kümmert. Es fehlt an den einfachsten Dingen: an Müllsäcken, Besen, Seife, Zahnbürsten und Unterhosen.
Nur eine Gruppe freiwilliger Helfer hält seit acht Jahren die Stellung. Jeden Donnerstag leisten die Mitarbeiter der Organisation "Cittadini del Mondo" medizinische und bürokratische Hilfe. "Die Neuankömmlinge werden in den Auffanglagern provisorisch versorgt, danach sind sie so gut wie auf sich allein gestellt", sagt Raffaella De Felice, eine der Helferinnen. Dreiviertel aller Neuankömmlinge seien unterernährt oder dehydriert. Viele litten an hohem Fieber, auch Magen-Darm-Infekte und psychische Leiden sind verbreitet. Viele der Neuankömmlinge wollen sich nicht identifizieren lassen. Ihre Hoffnung ist, in andere, besser organisierte EU-Länder weiterzuziehen. Das geht nur, wenn es ihnen gelingt, nicht von der italienischen Polizei erfasst zu werden und sich keine Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Nach der sogenannten Dublin-Verordnung kann ein Flüchtling nur in dem EU-Land Schutz beantragen, in dem er erstmals die EU betreten hat, also meist Italien. "Hier haben Flüchtlinge fast keine Chance", sagt Christopher Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrats. Sie werden zu unsichtbaren Wesen im Untergrund.
Said Hussen aus Äthiopien meint, es sei gut, dass die Ankömmlinge es vermeiden, sich in Italien registrieren zu lassen. Dann könnten sie zwar illegal, aber in Massen in andere EU-Länder weiterziehen. Er sagt: "Wenn dort auch das Chaos ausbricht, dann ändert sich vielleicht endlich etwas."