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Unterwegs auf dem Feira de São Joaquim, dem größten und ältesten freien Markt in Salvador de Bahia, der drittgrößten Stadt Brasiliens, wo ein wilder, bunter Mix an Waren den Synkretismus des Landes widerspiegelt.
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"Sou, sou, sou Brasileiro, louco, muito louco de Paixão" - Ich bin verrückt aus Leidenschaft, tönt es aus den Lautsprechern. Einer der besten Songs aus dem heurigen Karneval in Salvador de Bahia, der noch immer gesungen wird. Männer und Frauen, in Shorts und bunte T-Shirts gekleidet, gelbe "Skol"-Bierdosen in den Händen, schwingen im schnellen Rhythmus, singen mit, lachen, sehen dabei immer wieder zum Himmel. Diesen so gut wie immer tiefblauen Himmel über Salvador de Bahia.
Zwei, drei Schritte und die Musik ist vergessen, nur noch ein Geräusch unter vielen. Die Gänge der Feira de São Joaquim, dem größten und ältesten freien Markt in Salvador de Bahia, sind eng. Stand an Stand, Körper an Körper, Stimme an Stimme, Ware an Ware. "Hier bekommst du alles, was du brauchst, und alles, was du möchtest", sagt Pai Anderson, ein junger Priester des Candomblé, einer in Bahia stark verbreiteten spirituellen Tradition afrikanischen Ursprungs.
Das Herz von Bahia
Der erste Eindruck ist überwältigend. Alles hat nebeneinander und übereinander Platz gefunden, und sei er noch so winzig: Gewürze in allen Farben, Duftvariationen und Größen neben Samen, Pfannen, Geschirr. Netze mit prallen Knoblauchknollen liegen im Schatten von Sportkappen und Unterwäsche. Ein großes Sortiment an handgemachten Ledersandalen neben Strohkörben, exotischen Früchten, frischen Krabben, Statuetten von katholischen und afrobrasilianischen Heiligen, Palmenölflaschen, Percussion-Instrumenten und glitzernden Ketten aus Plastikperlen oder Buzios (Kauimuscheln). Selbst die kleinsten Gegenstände wirken in dieser Anordnung riesig - so, als betrachte man sie durch ein Vergrößerungsglas. Immer wieder rückt man dicht an die Seite, weil jemand mit einem Schubkarren voll beladen mit Paketen, Bananen, Kokosnüssen oder Mehlsäcken freie Wege benötigt. Viele tragen ihre Waren auf dem Kopf - sie schlängeln sich schnell, konzentriert, mit kurzem Blickkontakt und ohne Lächeln vorbei, biegen um irgendeine der vielen Ecken und Abzweigungen und verschwinden im dichten Treiben.
"Hier ist das Herz Bahias, nicht da oben!", sagt Sandro, ein muskulöser Security-Mann, leidenschaftlicher Percussionist und Sänger, und zeigt auf den Hügel mit dem historischen Stadtkern "Pelorinho" und dem "Mercado Modelo", einer denkmalgeschützten Markthalle, zu der Touristenströme gelenkt werden. In São Joaquim sieht man so gut wie keine Touristen. Hier sind die Bewohner Salvadors, der drittgrößten Stadt Brasiliens mit dem höchsten Anteil an Bevölkerung afrikanischer Abstammung, unter sich.
Ist es hier gefährlich? "Nein, wenn du mit einem von hier mitgehst, dann passiert dir gar nichts", sind sich Sandro und Anderson einig. Wer den Markt noch in seiner ganzen originären Pracht und Dichte sehen möchte, sollte damit nicht bis zur Fußballweltmeisterschaft 2014 warten. Nicht nur die Stadien, ganz Salvador gleicht einer riesigen Baustelle. Die angekündigte Revitalisierung von São Joaquim rückt näher. Neben der Erneuerung der Kanalisation, der elektrischen Leitungen und des Feuerschutzes sollen neue Böden verlegt, Stände überdacht und neu angeordnet werden. In Zahlen: 923 neue Stände werden errichtet, 426 umgebaut und verschönert.
Was wird dann mit der unüberschaubaren Anzahl an handgeschriebenen Schildern geschehen? Diese Schilder bezeichnen in einem wilden Mix an Größe, Farbe, Schrift, Botschaft und Altersspuren die einzelnen Stände, wie jene der katholischen oder afrikanischen Heiligen: Der "Palácio de Oxóssi", also der Palast des heiligen Oxossi, ist synkretistisch dem heiligen Sebastian gewidmet, oder die "Loja Santa Barbara" der heiligen Barbara. Manche Tafeln sind auch obsolet und aus der Zeit gefallen: "Otica" (Optiker) steht groß und verblasst über einigen Boxen, in denen frisches und getrocknetes Fleisch verkauft wird. Praktische Orientierungsschilder findet man wenige, dafür viele wegweisende Botschaften für ein besseres Leben im Lichte einer göttlichen Führung - und ebenso viele spirituelle Weisheiten.
Security-Mann Sandro bleibt stehen und wühlt in den CDs eines mobilen Händlers. Rund 400 CD’s stapeln sich auf einem zweckentfremdeten alten Fahrrad. Für umgerechnet drei Euro wechselt eine CD den Besitzer. Die Frage, ob es sich dabei um "reguläre CDs" handelt, erübrigt sich. Verglichen mit den sonstigen Preisen in Brasilien, die mittlerweile europäisches Niveau erreicht haben, ist hier alles sehr günstig. Das Landesgericht Acarajé, ein in Palmenöl gebackenes Bällchen aus gemahlenen Bohnen, Krabben und Gewürzen, bekommt man um umgerechnet 35 Cent. An den Stränden Salvadors zahlt man dafür mindestens das Fünffache.
Eines lernt man in Bahia ziemlich schnell: Vieles ist nicht so, wie es scheint oder wie man es erwartet. Wer Überraschungen, Verzögerungen und kleine Alltagshoppalas liebt, ist hier gut aufgehoben. In São Joaquim ganz besonders. Bierdosen werden fast überall verkauft, egal, was der Laden sonst anbietet. Kaffee sucht man hingegen fast vergeblich. Mit ein wenig Glück bekommt man da oder dort einen winzigen Plastikbecher mit tiefschwarzem und stark gezuckertem Kaffee kommentarlos überreicht. Den trinkt man am besten, bevor man das Ende des Ständelabyrinths erreicht und die Fleischabteilung betritt.
Kleingetier aller Art
Der bis dahin farbenfrohe Markt strahlt dort durchgehend in einem einheitlichen, rotgelben Licht. Frisches und getrocknetes Fleisch liegt nebeneinander aus, häufig in Riesenstücken. Zwischen Geflügelkeulen, Herzen, Leber und anderen Innereien schwingt ein dünner, goldener Rosenkranz in der stickigen Luft.
Hinter dem Kopf eines Rindes hängen dicke, verpackte Würste, darunter lagern große Reis- und Bohnensäcke. Man denkt sofort an Fejoada, das brasilianische Nationalgericht, einen ansonsten köstlichen Fleisch-Bohnen-Eintopf. Der Appetit darauf will sich ob der Eindrücke und Gerüche in diesem Bereich von St. Joaquim aber vorläufig nicht einstellen.
Ein Hahn schreit. Er ist nicht alleine: Artgenossen und andere Kleintiere - Ziegen, Hühner, Gänse, Schafe, Enten, Küken, Tauben - tummeln sich in engen Käfigen oder irgendwo darüber, dazwischen oder rundherum. Zwei Küken liegen in Zeitungspapier verpackt auf einem Tresen. Anderson, der Candomblé-Priester, beruhigt: "Manche werden für Rituale verwendet, aber dann ganz normal gekocht und verspeist. Ihr schlachtet eure Tiere ja auch vor dem Essen, oder?"
Und so verlässt man São Joaquim, das pulsierende, kontrastreiche Markenzeichen Salvadors - und hofft, dass es dem Ansturm der Menschen und Zeiten, die über Brasilien hereinbrechen werden, standhalten wird.
Nadia N. Gentile, in Udine (I) geboren, Lebensmittelpunkt in Graz, Soziologin und Fotografin mit Schwerpunkt Visual Sociology und People Photography. Infos unter: www.fotogen-tile.com