Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Polizeiobermeister Richard Willig erkannte die Gefahr, als er hinter seinem Rücken eine Kommandostimme hörte: "Du übernimmst den Husar, du die Schweinebacke, und du den anderen". Willig zog die Waffe, wirbelte herum - und wurde von einem Bauchschuss getroffen. Sein Vorgesetzter, der 49-jährige Polizeihauptmann Paul Anlauf, starb durch eine Kugel in den Hinterkopf. Der dritte Beamte, Hauptmann Franz Lenck (Jahrgang 1892), wurde durch einen Schuss in die Brust getötet. Willig (Spitzname: "Husar") überlebte den Anschlag. Die Täter entkamen unverletzt und unerkannt.
Das geschah innerhalb weniger Sekunden am 9. August 1931 gegen 20.30 Uhr am Berliner Bülowplatz, heute Rosa-Luxemburg-Platz. Der Doppelmord an der Polizeistreife war nicht aus heiterem Himmel gekommen. Tags zuvor schon konnte man an einer Hauswand die Parole lesen: "Für einen erschossenen Arbeiter fallen zwei Schupo-Offiziere!!! Rot Front nimmt Rache." Am Bülowplatz prangte die Warnung: "Achtung! Schupos der Bülowwache! Nehmt Euch in Acht! Eure Stunde ist jetzt gekommen . . ."
Im Vorfeld der Polizistenmorde stand die Reichshauptstadt vor der Zerreißprobe, denn für gerade diesen Sonntag war ein Volksentscheid über die Auflösung des preußischen Landtages angesetzt, wodurch die SPD-geführte Regierung gestürzt werden sollte. Der monarchistische "Stahlhelm" hatte sich zu diesem Zweck unter anderem mit der NSDAP zusammengetan - ein Bündnis, dem sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) auf Weisung aus Moskau anschloss. Unter Verkennung der realen, der nationalsozialistischen Gefahr, wollte die KPD-Führung der durch Notverordnungen beinahe unregierbar gewordenen, von Massenarbeitslosigkeit, Verelendung und Radikalisierung gebeutelten Weimarer Republik den Todesstoß versetzen.
Tote auf beiden Seiten
In den Tagen vor der Abstimmung war es bei Hungerdemon-strationen am Bülowplatz immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen.
So auch am 8. August. Reviervorsteher Anlauf (von seinen Gegnern wegen seines vollen Gesichtes "Schweinebacke" genannt), hatte den Platz wiederholt unter Knüppeleinsatz räumen lassen. Dabei erschoss ein Polizist den 18-jährigen KPD-Sympathisanten Fritz Auge. Schon zuvor hatte es bei nahezu täglichen Auseinandersetzungen Todesopfer gegeben. So waren ein 16-Jähriger und ein 55-Jähriger im Polizeifeuer verblutet. Auf der Gegenseite waren zwei Polizeibeamte "von Kommunisten erschossen" worden.
All die Toten weckten Erinnerungen an den 1. Mai 1929, den "Berliner Blutmai", als bei Krawallen 32 Demonstranten von einer mit Panzern und MGs bewaffneten Polizeitruppe getötet wurden. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel hatte damals geglaubt, einen nicht existierenden kommunistischen Aufstand niederschlagen zu müssen.
Kurz nach dem Doppelmord hatten schwerbewaffnete Beamte den Bülowplatz abgeriegelt. Straßenkontrollen und Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung. So wurde die KPD-Zentrale, das Karl-Liebknecht-Haus, regelrecht auf den Kopf gestellt. In der Nacht bestrahlten riesige Scheinwerfer die Fassaden. Von den Tätern jedoch fand sich keine Spur - trotz der ausgelobten Belohnung von insgesamt 23.000 Mark. Eine ungeheure Summe, bedenkt man, dass zu jener Zeit ein Brötchen drei Pfennige kostete.
Am Montag - das Volksbegehren der radikalen Parteien war inzwischen vom Wähler abgeschmettert worden - hielten die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Bülowkiez an. Ein schweres Polizei-MG war aufgefahren und die Beamten übten sich in willkürlichen Festnahmen.
Die Trauerfeier für Anlauf und Lenck geriet zum Staatsakt. Der preußische Innenminister hielt die Gedenkrede. Inzwischen war eine besondere Tragik im Falle Paul Anlauf publik geworden: Nur wenige Wochen vor dem eigenen Tod hatte er seine Frau durch Krankheit verloren. Die jüngste seiner drei Töchter, die elfjährige Dora, hatte durch ihr herzzerreißendes Weinen am Grabe selbst die hart gesottene Hauptstadtpresse gerührt.
Suche nach den Tätern
Zwei Jahre waren ins Land gegangen - inzwischen herrschten die Nazis in Deutschland - als die Zeitungen verkündeten: "Kommunistenmord an den Polizeihauptleuten Anlauf und Lenck aufgeklärt". Es folgte eine Liste der zur Fahndung ausgeschriebenen Personen: Als Initiator des Mordplanes wurde Hans Kippenberger, der KPD-Reichstagsabgeordnete und Chef des militärischen Apparates der KPD und Reichsleiter Parteiselbstschutz, ausgemacht (jedoch ohne schlüssige Beweise). Ferner wurde Heinz Neumann genannt, intellektueller Kopf der Partei und Chefredakteur des Zentralorgans "Rote Fahne". Doch auch seine unterstellte Tatbeteiligung blieb vage. Als tatsächlicher Regisseur der Todesschüsse galt Michael Klause, Chef der Rotfrontkämpfer im Wedding und Bezirksleiter des Parteiselbstschutzes Berlin-Brandenburg. Die Todesschützen stammten aus dem "Roten Wedding": Der 23-jährige Erich Mielke und der 24-jährige Erich Ziemer hatten sich freiwillig für die Aktion gemeldet.
Als Tatmotiv wurde Rache für den erschossenen Jungarbeiter Auge angenommen, sowie ein diffuser Zwang, der den verhassten Männern der Bülowplatzwache "einen Denkzettel zu verpassen".
Der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter fand 1934 statt. Es wurde festgestellt, dass Mielke und Ziemer geschossen hatten. Drei Todesurteile wurden verhängt: Gegen den Waffenexperten Friedrich Broede, der 1935 in der Haft Selbstmord beging, gegen Michael Klause (Selbstmord 1942 im Polizeigefängnis Plötzensee) und gegen Max Matern, der gestanden hatte, Initiator des Anschlages gewesen zu sein. Er wurde 1935 hingerichtet.
Die Todesschützen selbst hatten sich der Justiz entzogen. Mielke soll sich noch in der Mordnacht nach Moskau abgesetzt haben. Auch Ziemer floh in die Sowjetunion, wo er Jahre später spurlos verschwand. Kippenberger wurde während der Hoch-Zeit der Stalinistischen "Säuberungen" liquidiert. Heinz Neumann ist ebenfalls 1937 in der SU verschollen.
Und Mielke?
Dem Speditionshelfer, der seit 1911 mit Eltern und drei Geschwistern in einer knapp 30 Quadratmeter engen Wohnung im Hinterhof des Hauses Stettiner Straße 25 lebte, der Not und Elend früh kennengelernt hatte, und Anfang des Jahres 1931 arbeitslos geworden war, machte eine unglaubliche Karriere. Nach den Jahren in der Sowjetunion, dem Einsatz als Polit-Instrukteur im Spanischen Bürgerkrieg (wo er laut Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen "leitend bei der Tötung antisowjetischer Rotspanier war") und als "untergetauchter" Kommunist in Südfrankreich während des Krieges - stieg Erich Mielke in der DDR bis zum nahezu allmächtigen Minister für Staatssicherheit auf.
Kurz drohte Gefahr, als im Februar 1947 das Amtsgericht Berlin-Mitte einen Haftbefehl wegen der "Bülowplatz-Morde" erließ. Doch die sowjetische Kommandantur vereitelte die Vollstreckung, ließ sich Strafakten von 1933/34 aus dem Kriminalgericht Moabit kommen, um sie dann offenbar Mielke auszuhändigen. Die Akten tauchten 1989 in Mielkes berüchtigtem "grauen Koffer" im Ministerium für Staatssicherheit auf und wurden nach Vollendung der deutschen Einheit den Justizbehörden rückübergeben.
Zur Wendezeit, am 13. November 1989, machte Mielke Schlagzeilen, als er vor der Volkskammer der DDR unter dem Gelächter der Abgeordneten stammelte: "Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen." Er hatte jede Macht verloren.
Nun erwies sich der sprichwörtliche lange Arm der Ermittlungsbehörden als längster Arm der deutschen Justizgeschichte: Am 28. November 1991, über 60 Jahre nach den Ereignissen, eröffnete die Strafkammer das Verfahren und ließ die Anklage von 1934 zu. Noch nie in der deutschen Justizgeschichte lag zwischen Verbrechen und Sühne eine so lange Zeit. Mielke, dem eine Stunde tägliche Verhandlungsfähigkeit attestiert worden war, schwieg zur Sache - und wurde in der Hauptverhandlung (10. Februar 1992 bis 26. Oktober 1993) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Obwohl dem Ministerium für Staatssicherheit unter Mielkes Federführung "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", Justizmorde, Freiheitsberaubungen und Folter, flächendeckende Bespitzelung, Schikanen aller Art, Rechtsbeugung, Diebstahl und vieles mehr angelastet wurden, wurde er - ein wesentlicher Punkt der damaligen Kritik an der Justiz - deswegen nie ernsthaft zur Rechenschaft gezogen. Hier galt er als verhandlungsunfähig.
Zur Verurteilung wegen des Doppelmordes von 1931 trug ein handgeschriebener Lebenslauf aus dem Moskauer Exil von 1938 bei. Mielke hatte sich im Rückblick auf seine frühen KPD-Aktivitäten gebrüstet: "Wir erledigten hier alle möglichen Arbeiten, Terrorakte, Schutz illegaler Demonstrationen und Versammlungen, Waffentransport und Reinigung und so weiter. Als letzte Arbeit erledigten ein Genosse und ich die Bülowplatzsache." Obwohl kein lebender Zeuge mehr gehört werden konnte, interpretierte das Gericht diesen Passus als Schuldeingeständnis.
Ende 1995 wurde Mielke nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln seiner Strafe auf freien Fuß gesetzt. Am 21. Mai 2000 ist er in einem Berliner Altenheim im Alter von 92 Jahren gestorben. Die jüngste Tochter von Paul Anlauf durfte die Verurteilung des Mörders noch erleben. Vielleicht war das eine kleine Genugtuung für die langen Jahre in Berlin (Ost), wo der Familie untersagt war, über "die Bülowplatzsache" öffentlich zu reden.
Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf historische, insbesondere kriminalhistorische Themen.