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Rote Roben geben grünes Licht

Von Alexander Dworzak und Christine Zeiner

Europaarchiv

Gericht weist politische Rolle zurück - die es einst selbst einforderte.


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Berlin/Karlsruhe.

Kaum ein nationaler Richterspruch ist mit dermaßen großer Spannung in Europas Staatskanzleien, Parlamenten und Finanzdistrikten erwartet worden. Unüberhörbar war das Aufatmen bei den allermeisten, als Deutschlands Bundesverfassungsgericht am Mittwoch die Ratifizierung des Euro-Rettungsschirms ESM und des europäischen Fiskalpakts durch Präsident Joachim Gauck genehmigte. Die rot gewandeten Juristen erteilten also Angela Merkels Kurs zur Euro-Rettung wie zuletzt erwartet grünes Licht - allerdings unter gelben Warnzeichen.

700 Milliarden Euro ist der ESM schwer, doch harrt das Rettungsinstrument seit Juli der Umsetzung. Denn anders als in allen weiteren 16 Euro-Ländern wurde der Vertrag in Deutschland bislang nicht ratifiziert, weil das von Bundestag und Bundesrat bereits unterschriebene Gesetz durch Eilanträge an das Verfassungsgericht gestoppt wurde. Ohne Deutschland und seinen Beitrag von 190 Milliarden an Bareinlagen und Garantien wäre der ESM jedoch als Totgeburt in die Geschichte eingegangen. Das Karlsruher Gericht schmetterte nun zwar die Bedenken der Kläger ab, wonach das deutsche Parlament durch den ESM sein "Königsrecht" der Budgethoheit verlöre. Das Urteil legt der Politik aber auf, dass die Haftungen die vereinbarten 190 Milliarden nicht überschreiten dürfen.

Treu blieben sich die Richter mit der Stärkung der Rechte des Bundestags auch im nunmehrigen Urteil. Sie unterstrichen die bisherige Regelung, wonach es ohne Zustimmung des deutschen Vertreters im ESM-Gouverneursrat keine Aufstockung des Fonds geben könne. Da jene Person nicht ohne Zustimmung des Parlaments agieren darf, bedeutet das eine Vormachtstellung des Parlaments - ob für das gesamte Plenum oder lediglich die 41 Mitglieder des mächtigen Haushaltsausschusses, ist jedoch strittig.

ESM-Start Anfang Oktober?

Präsident Joachim Gauck steht bereits in den Startlöchern, um das Gesetz zu unterschreiben. Einen Termin dafür gebe es aber noch nicht, ließ das Präsidialamt in Berlin am Mittwoch wissen. Die Marschroute gibt Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor; er rechnet damit, dass der ESM bereits in wenigen Wochen einsatzbereit ist. Der Chef der Euro-Gruppe, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, hält gar den 8. Oktober als Gründungstag des ESM für möglich.

Mit dem heutigen Hinweis der Verfassungsrichter sei ein "unglaublicher Fortschritt" gemacht worden "und auch wenn es im Moment nicht so aussieht: Wenn sich alles ein bisschen beruhigt hat, wird Europa von der Krise profitiert haben, unter anderem aufgrund der verstärkten Zusammenarbeit", analysiert Ferdinand Fichtner, Konjunkturexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Dabei handelt es sich mit dem Verdikt vom Mittwoch nur um eine vorläufige Entscheidung. Alle Experten gehen aber davon aus, dass das Urteil der Richter unter ihrem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben wird. Dennoch verspricht die endgültige Entscheidung Spannung: Dann wird über die Rechtmäßigkeit der Ankündigung der Europäischen Zentralbank (EZB) entschieden, die unbegrenzt Anleihen von Krisenländern kaufen möchte. Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler blitzte mit seinem Eilantrag gegen die EZB-Maßnahme nun zwar ab; ganz vom Tisch ist die Frage, ob die Zentralbank ihre Kompetenzen überschritten habe, jedoch noch nicht.

Punktsieg für Merkel

Auch wenn sich Gauweiler durch die Behandlung seines Anliegens als Gewinner sieht, politische Siegerin des Tages ist Angela Merkel. Das Gericht bestätigte im Großen und Ganzen den Kurs der Kanzlerin in der Euro-Krise. "Das ist ein guter Tag für Deutschland, und das ist ein guter Tag für Europa", frohlockte Merkel. Die Juristen setzten auf Kontinuität: In der vierten Euro-Entscheidung binnen zwölf Monaten haben sie stets punktuelle Kritik geübt, jedoch keine Rettungsmaßnahme der Regierung gekippt. Merkel geht also innenpolitisch gestärkt aus der Auseinandersetzung. Bereits jetzt erreicht die seit 2005 amtierende Regierungschefin die höchsten Vertrauenswerte in der Bevölkerung, ihre CDU liegt in Umfragen 13 Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten.

Im Gegensatz dazu steckt die SPD in der Bredouille: Teile der Partei, allen voran Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, der auch potenzieller Kanzler-Kandidat ist, begrüßen das Urteil inhaltlich. Und aus staatspolitischer Räson können die Sozialdemokraten nicht auf ein Scheitern Merkels hoffen. Andererseits stehen im Herbst 2013 Bundestagswahlen an - und der Wahlkampf verlangt nach inhaltlicher Abgrenzung, nicht nach Gemeinsamkeiten.

Als Siegerin des Urteils fühlt sich die Linkspartei - wird als solche aber nicht öffentlich wahrgenommen. Neben dem CSU-Polterer Gauweiler und der Bürgerinitiative "Mehr Demokratie", die 37.000 Kläger vertrat, haben auch die Linken in Karlsruhe einen Eilantrag gegen den ESM eingebracht. Damit habe die Linke eine Begrenzung der deutschen Haftung für den ESM und mehr Rechte für den Bundestag erstritten und so "die Demokratie bereichert", sagte Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi am Mittwoch im Bundestag. "Eigentlich müssten Sie sich heute hier hinstellen und sagen: ,Danke, liebe Linke‘", tönte er Richtung Regierungsbank.

Zu den selbst ernannten Gewinnern zählt auch der Bund der Steuerzahler (BdSt). Dieser begrüßt die Absage des Karlsruher Richter an eine unbegrenzte Haftung für den Rettungsschirm. Mit der Beschränkung der Haftung Deutschlands auf 190 Milliarden Euro sei der ESM als unbegrenzte "Bad Bank" für kriselnde Euro-Staaten gescheitert. Worüber der BdSt jubelt, steht bereits ausdrücklich im ESM-Vertrag.

Politiker wider Willen

Mit ihrer Hoffnung auf einen anderslautenden Richterspruch haben viele Politiker und Bürger das Verfassungsgericht in eine politische Rolle gedrängt - eine Funktion, die Vorsitzender Voßkuhle am Mittwoch scharf zurückwies: Den Juristen ginge es nicht um Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des Rettungspaketes. "Das ist und bleibt Aufgabe der Politik." Niemand könne mit Sicherheit sagen, welche Maßnahmen für Deutschland und die Zukunft Europas in der Krise tatsächlich am besten seien.

Paradoxerweise haben sich die Richter selbst in eine ausweglose Situation mit überhöhten Erwartungen an sie manövriert: Bereits in ihrem Urteil zum Maastricht-Vertrag im Jahre 1993 kündigten sie an, die Stabilität des Euro und seine demokratische Absicherung in Deutschland streng im Auge zu behalten. "Karlsruhe hat sich an Europa übernommen", kommentiert nun der "Spiegel". Am Parlament vorbei sei eine Art direkter Demokratie entstanden, "ratlose Bürger, aber auch Spinner, Populisten, Querulanten klagen nun lautstark ein, was das Bundesverfassungsgericht einst versprochen hat", so das Magazin.

Europa eilt voraus

Karlsruhe kann nur hinterherhinken, während etwa die EZB mit ihren geplanten Anleihenkäufen vorprescht. Bis zum Urteil im Hauptsacheverfahren mache die EZB, "was sie will", analysiert die "Süddeutsche Zeitung".

Stets hätten die Karlsruher Richter versucht, die Rechte des Parlaments zu stärken. Diese Methode sei jetzt ausgereizt. Denn der Bundestag könne die demokratische Kontrolle von gewaltigen Euro-Rettungsprojekten nicht gewährleisten. In Zeiten der Krise, die schnelle Entscheidungen und Lösungen erfordert, werden Beschlüsse auf europäischer Ebene getroffen. Auch die Richtersprüche werden sich von der nationalen Bühne wegverlagern. Wenn über die EZB-Beschlüsse endgültig entschieden wird, werde Karlsruhe die Sache dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegen, mutmaßt das Münchner Blatt.