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Rothaut oder Bleichgesicht?

Von Hans-Paul Nosko

Reflexionen
Die Programme zu den Karl-May-Filmen sind heute begehrte Sammlerstücke.
© Foto: Tatjana Sternissa

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Den Weg von zu Hause bis zu meiner Volksschule hätte ich in weniger als fünf Minuten zurücklegen können. Wären da nicht zwei Hindernisse gewesen, die das Ganze erheblich in die Länge ziehen konnten. Das erste besaß eine große Auslagenscheibe und eine kleine Türe mit blau gestrichenem Rahmen. Im dunklen Inneren stieg einem der Duft von Kokoskuppeln, Lakritzen und den picksüßen Kaugummis der Sechziger Jahre in die Nase. Da ich in der Regel bereits vor dem Betreten dieses kleinen Paradieses genau wusste, was ich kaufen wollte, und überdies meist nur einen oder höchstens zwei Schilling bei mir trug, war mein Aufenthalt hier recht rasch beendet: Entweder ein Bazooka um fünfzig Groschen, mit dem man herrliche Blasen machen konnte, oder, um den doppelten Preis, ein dünnes Papierkuvert, das nebst einem kleinen polsterförmigen Pfefferminzkaugummi eine Ansichtskarte enthielt. Wieder auf der Gasse angelangt, zog ich diese heraus, um zu sehen, ob es hoffentlich eine war, die ich noch nicht besaß.

Einen Häuserblock weiter lag das zweite Hindernis. Größer als das erste und um diese Tageszeit noch verschlossen. Sehen konnte man jedoch genug, und das, was man erblickte, bot unendlich viel Stoff zum Träumen. Die breite Front des Hauses war mit Schaukästen behängt, in denen eine Menge bunter oder auch schwarzweißer Fotos hing. Darüber stand geschrieben: "Der Teufel und die zehn Gebote", "Abrechnung in Vera Cruz" oder "Schüsse aus dem Geigenkasten".

Idole auf Postkarten

Ab und zu waren auf den Bildern Seite an Seite ein bunt gekleideter Indianer mit wehender schwarzer Mähne und ein groß gewachsener Weißer im ausgefransten braunen Ledergewand zu sehen. Dann konnte es schon passieren, dass ich lange stehen blieb. Da ich auf Anordnung meiner Eltern allerdings bereits um dreiviertel Acht das Haus verließ, kam ich trotz dieser beiden Aufenthalte immer rechtzeitig im Klassenzimmer an. Dort standen Mädchen und Burschen in getrennten Gruppen beisammen. Worüber die Mädchen sprachen, habe ich bis heute nicht erfahren - bei den Burschen ging es zumeist darum: Wer hat eine dieser Postkarten mitgebracht und will sie vielleicht gegen eine andere tauschen?

Das nämlich war der wesentliche Inhalt der kleinen Papiersäckchen: Farbfotos mit Bildern aus dem neuesten Karl-May-Film. Oft hatten wir diesen noch nicht einmal gesehen, mit diesen Fotografien konnten wir uns immerhin einen Vorgeschmack darauf gönnen. Zu Hause klebte ich meine Schätze in ein unbeschriebenes Schulheft ein und setzte einen entsprechenden Bildtext daneben.

Landete der dazugehörige Film dann endlich in einem - wie es damals oft noch hieß - "Lichtspieltheater" der Umgebung, so mussten wir nur noch unsere Eltern dazu bringen, mit uns die Vorstellung zu besuchen; natürlich schätzten wir es noch mehr, wenn wir lediglich bis vor das Kino gebracht und zwei Stunden später wieder abgeholt wurden; aber viele Väter wollten ja selbst wissen, was aus den Helden ihrer Jugend geworden war, und die Mütter lockte oft ein Wiedersehen mit deutschen Leinwandidolen wie Elke Sommer, Götz George, Heinz Erhardt, Karin Dor oder dem Österreicher Sieghardt Rupp.

Für uns Kinder waren nur Pierre Brice als Winnetou und Lex Barker, der den Old Shatterhand verkörperte, von Bedeutung. Einen Stewart Granger als Old Surehand nahmen wir billigend in Kauf; dass dieser, abgesehen von Klaus Kinski, der einzige echte Weltstar war, der für einen Karl-May-Film gewonnen werden konnte, interessierte uns herzlich wenig. Wir erlagen der ernsten Würde des Apachenhäuptlings und den kraftvollen Auftritten seines weißen Blutsbruders. Dass Winnetou in Wahrheit Franzose war und Old Shatterhand ein US-Amerikaner, störte uns nicht. Auch dass fast alle Streifen im damaligen Jugoslawien gedreht wurden, konnte uns die Freude daran nicht verderben.

Ob es die "Winnetou"-Trilogie war, "Old Surehand 1. Teil", dem nie ein zweiter folgte, oder die von vielen etwas weniger geschätzten Geschichten aus dem Orient wie "Durchs wilde Kurdistan" (hier gab’s keine Indianer) - wenn die Geigen von Martin Böttcher einsetzten, fühlten wir uns geborgen in einer Welt, in der das Gute siegen musste und das Böse dem Untergang geweiht war.

Natürlich war es eine harte Probe, als 1965 Winnetou III ins Kino kam. Als Leser von Karl Mays Büchern wussten wir, was uns hiermit bevorstand. Nie werde ich den Tag vergessen, als meine Mutter mich im steirischen Aflenz (wir verbrachten die Sommerferien dort) fragte, ob ich mir diesen Film anschauen wollte. Einerseits war es für mich völlig unvorstellbar, mit anzusehen, wie der edelste aller Apachen sein Leben aushaucht; andererseits wollte ich klarerweise diesen Karl-May-Film ebenso wenig verpassen wie die anderen. Wir gingen also hin. Der Kinosaal war bis auf dem letzten Platz gefüllt. Und als dann der Häuptling nach dem todbringenden Schuss die Augen schloss, brach ein lautes Schniefen und Schluchzen aus. Zum Glück entschloss sich die deutsche Produktionsfirma nach anhaltenden Protesten vor allem der "Bravo"-Leser, weitere Filme zu drehen, und so konnten wir kurz darauf die Auferstehung unseres Helden begehen.

Quartette und Puzzles

Das Blutsbrüderpaar samt seinen Gefährten war allgegenwärtig. Wir kauften vom Taschengeld mehrerer Wochen Winnetou-Quartette und bekamen Puzzles mit Fotos aus den Filmen zu Weihnachten geschenkt. Eine Süßwarenfirma packte ihre Schokoladetafeln in Bilder von acht prominenten Karl-May-Charakteren ein, und meine Großmutter versorgte mich mit Cowboy- und Indianerfiguren aus Plastik, die in ihren Linde-Dosen vergraben waren und noch Monate später nach diesem Ersatzkaffee dufteten.

Wir fanden uns im Park zusammen, um Indianer und Cowboys zu spielen, schlichen uns zwischen den Gebüschen an und schossen aus Kapselrevolvern. Jeder versuchte den anderen mit Original Wildwest-Ausdrücken zu übertrumpfen: Wir sagten "Howgh" und "Uff, uff" und schworen "bei Manitou".

Eine der schwierigsten Entscheidungen war, ob man am jeweiligen Tag Rothaut oder Bleichgesicht sein sollte. Ich war für beide Fälle gut ausgestattet. Meine Mutter hatte mir rote Zierstreifen mit Zackenmuster an die Ärmel eines schwarzen Pullis genäht, was mich in meinen Augen absolut indianisch aussehen ließ; zum Geburtstag erhielt ich ein - harmloses, aber formschönes - Messer aus biegsamem Gummi, das ich prompt bei meinem ersten Auftritt im Park verlor. Mein Großvater, Werk- und Zeichenlehrer im Ruhestand, hatte es sich nicht nehmen lassen, mir einen breitkrempigen Cowboy-Hut zu basteln, den ich allerdings nur aufsetzen durfte, wenn es nicht regnete. Er war nämlich aus Karton. Der nietenbesetzte Gürtel, den ich für ein gutes Zeugnis bekommen hatte, war gleichermaßen für Winnetou als auch für Old Shatterhand zu gebrauchen.

So wie wir die Kinos stürmten, wenn ein Karl-May-Film lief, so verschlangen wir auch die Bücher. Meine Lieblingswerke waren neben den drei "Winnetou"-Bänden "Der Ölprinz" und "Old Surehand", erster Teil. Natürlich wussten wir alle, dass der Ich-Erzähler von Ländern schrieb, die er nicht kannte, dass er keine einzige seiner Heldentaten je vollbracht hatte und mangels entsprechender Statur beim besten Willen auch nicht hätte vollbringen können - ja, dass auch kein Mensch sonst zu Kraftakten imstande wäre, wie "eine so gewaltige Ohrfeige, dass er wohl sechs bis acht Schritte entfernt zur Erde fiel". Manch einer hatte die Autobiographie "Ich" gelesen und kannte somit auch Mays kriminelle Vergangenheit. Das alles konnte uns jedoch die Lust an seinen Büchern nicht nehmen. War die erste Seite aufgeschlagen, befand man sich bereits im Wilden Westen oder im vorderen Orient.

Freilich las ich in meiner Jugend auch andere Abenteuerromane, etwa "Moby Dick", "Die Schatzinsel", "Ivanhoe" und viele Bände, die der deutsche Jugendschriftsteller Herbert Kranz in den 1950er Jahren verfasst hatte. Seine Geschichten, die noch heute über eine Fangemeinde verfügen, handelten von einem Sechs-Mann-Team. bestehend aus zwei Deutschen, zwei Franzosen und zwei Engländern, die in allen Teilen der Welt im Einsatz waren, um bedrängte oder verfolgte Menschen aus allen nur erdenklichen Gefahren zu retten. "Im Dschungel abgestürzt", "Schuldlos unter Schuldigen" oder "Im Zeichen der Schlange" hießen einige der Kranz-Bücher. Das Ziel des Autors war es, heranwachsenden Menschen Werte wie Hilfsbereitschaft, Toleranz oder Zivilcourage zu vermitteln; sein Mittel dazu waren packende Geschichten, die zwar nicht selbst erlebt, aber minutiös recherchiert waren.

Kranz bereiste die Länder, in denen seine Romane spielen sollten: Brasilien ebenso wie die Vereinigten Staaten oder Marokko. Das machte den wohl größten Unterschied zu Karl Mays "Reiseerzählungen" aus: Die - erfundene und äußerst durchdachte - Handlung spielte vor einem realen Hintergrund. Man konnte sicher sein, dass die jeweiligen Städte oder Landschaften bis ins kleinste Detail genauso aussahen, wie sie in den Büchern beschrieben waren.

Der Märchenerzähler

Genau dieser starke Bezug zur Realität fehlte bei Karl May völlig, und wir wussten das oder ahnten es zumindest. Die Geschichten, in die wir uns - ob beim Lesen oder im Kino - vergruben, waren Märchen: Bis zur Selbstaufgabe edle Apachen, hundsgemeine Kiowas, bärenstarke Westmänner, ums Eck schießende Gewehre und ein paar umgeknickte Grashalme, aus denen man mit einiger Übung den kompletten Ablauf eines Zweikampfes ablesen konnte.

Wenn es wahr ist, dass Glück zu einem Teil darin besteht, wählen zu können und somit Alternativen zum momentan Bestehenden zu haben, dann war es wohl genau das, was uns Kinder an Karl May so faszinierte: Die Möglichkeit, uns in eine komplett irreale Gegenwelt zu begeben, die trotz aller Grausamkeiten eine heile zu sein schien. Denn Kinder haben oft keine Möglichkeit, der Welt zu entgehen, wie sie ihnen von den Erwachsenen vorgesetzt wird - wenn nicht zufällig ein Zuckerlgeschäft oder ein Kino am Schulweg liegt.

Hans-Paul Nosko, geboren 1957, lebt als Journalist in Wien. Kolumnist im "extra".