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Rückkehr der Barbarei

Von Egon Matzner

Politik

Die Barbarei ist nach Europa zurückgekehrt. Nichts anderes besagen die Bilder von Vertreibung und Tod, von Brandschatzung in Dörfern und Bomben in Städten, die uns täglich aus dem Krieg am Balkan | erreichen. Das Entsetzen, das sie auslösen, dominiert zur Zeit Gefühl und Verstand. So gerät in den Hintergrund, daß ihrer Rückkehr die sukzessive Preisgabe wertvoller zivilisatorischer | Errungenschaften auf allen Seiten vorausging.


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Seit mehr als zehn Jahren werden in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien Verfassungen gebrochen, Verträge einseitig aufgekündigt, Verfahren friedlicher Konfliktbewältigung und die

dafür geschaffenen Institutionen wie UNO oder OSZE mißachtet und übergangen. Der Prozeß des zivilisatorischen Rückschritt ist noch immer nicht abgeschlossen. Nunmehr geht es um die endgültige

Ausschaltung der UNO und der OSZE.

Anstelle des Bemühens um friedlich herbeigeführte Lösungen ist die Drohung und Anwendung militärischer Gewalt getreten. Schon immer wurde insbesondere internationales Recht gebeugt und gebrochen. Die

Rechtsverletzung wurde aber immer auch mit Wirkung an den Pranger gestellt. Die Geltung des Rechts wurde nur von extremistischen Gegnern des Rechtsstaates in Frage gestellt. Adolf Hitler war einst

einer derjenigen, der Völkerrecht und Völkerbund verächtlich zurückgewiesen hat. Die Folgen sind bekannt. Heute werden internationales Recht und UNO-Charta schon wieder und immer häufiger als

überholt und wirkungslos bezeichnet. Es ist dies ein zivilisatorischer Rückschritt, der dem Rückfall in die Barbarei zeitlich und kausal vorausgeht. Die Mißachter und Verächter des Rechts heißen

nicht nur Milosevic. Es befinden sich viele VertreterInnen der westlichen "Werte-Gemeinschaft" darunter. Sie brechen dabei nicht nur das internationale Recht, sondern auch die Gesetze des Staates,

auf deren Verfassung sie ihren Eid abgelegt haben.

Etappen des zivilisatorischen Rückschritts

Beispiel 1: Die Aufhebung des Autonomie-Statutes des Kosovo und der Vojvodina wurde von der Belgrader Regierung einseitig und unter Verletzung der Mitspracherechte der betroffenen Gebiete

beschlossen. Diese Regelverletzung bildete einen wichtigen Anstoß für die Souveränitäts-Ansprüche der anderen Republiken der damals noch bestehenden Jugoslawischen Föderation.

Beispiel 2: Die Sezession von Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina durch einseitige Erklärung der Unabhängigkeit erfolgte unter Mißachtung des dafür in der OSZE

vorgesehenen Verfahrens. Die "Westliche Werte-Gemeinschaft", allen voran die Bundesrepublik Deutschland und die eifrige österreichische Bundesregierung, gestützt durch eine einstimmige (!) Resolution

des Nationalrates, hat durch die einseitige Anerkennung der Unabhängigkeit der sezessionistischen Republiken ebenfalls die OSZE-Regeln mißachtet. Die Vertreter der "Werte-Gemeinschaft" haben

damit zu den jugoslawischen Nachfolgekriegen ebenso beigetragen wie die USA, die die Sezessionisten mit Kriegsmaterial und Ausbildern ausstatteten.

Beispiel 3: Jugoslawien wurde aus der OSZE und der UNO unter Verletzung der eigenen Repräsentanz-Prinzipien ausgeschlossen. Nicht einmal mit Südafrika und dem Pol Pot-Regime wurde unter

Berufung auf das Universalitätsprinzip so verfahren.

Beispiel 4: Bei den Unabhängigkeitserklärungen der neuen, ethnisch zentrierten Nationalstaaten blieben die unveräußerlichen Rechte der Minderheiten unberücksichtigt. Für den Schutz der

Minderheiten wurden keine Vorkehrungen getroffen. Zwischen Serben und Kroaten usf. entstand eine Kriegs- und Vertreibungskomplizenschaft.

Beispiel 5: Bei den Verhandlungen in Rambouillet wurde den Vertretern der Belgrader Regierung ein Vertrag zur Unterzeichnung vorgelegt, der sich von dem zuvor ausgehandelten Text in einem

wesentlichen Punkt unterschied. Dies betraf die Stationierung von NATO-Truppen im Kosovo. Solches "Verhandeln" ist ein markanter Verstoß gegen Regeln internationaler Beziehungen.

Beispiel 6: Die Bombardierung Jugoslawiens erfolgt ohne UNO-Mandat und verletzt deshalb das Völkerrecht und die UNO-Charta, (die UNO wurde zu den Verhandlungen nicht beigezogen), sowie den

derzeit noch gültigen NATO-Vertrag selbst.

Die Liste der Regelverstöße ist einseitig, weil sie diejenigen des Milosevic-Regimes weniger beleuchtet. Dies geschieht deshalb, weil über diese ständig berichtet wird. Sie sind deshalb nicht weniger

Teil dessen, was hier als sich gegenseitig aufschaukelnder und rechtfertigender "zivilisatorischer Rückschritt" konstatiert werden soll.

Out of UNO

Der Bruch des Völkerrechts durch die Bombardierung Jugoslawiens wurde damit gerechtfertigt, daß dadurch menschliches Leid verringert werden soll. Das Gegenteil ist der Fall. Haben die Planer der

NATO das nicht vorhersehen können? Warum haben sie nicht McNamara, den Kriegsminister, der den Vietnam-Krieg führte oder Kissinger, den Außenminister, der den Vietnam-Krieg beendete, auch

Eagelberger, der lange Jahre US-Botschafter in Belgrad war, befragt? Sie hätten vor einem völkerrechtswidrigem Bombenkrieg gewarnt.

Nein, die Naivitätsvermutung kann den Generalstäblern, den sozialdemokratischen Regierungschefs und Kriegsministern nicht zugestanden werden. Denn jeder Einjährige beim Heer weiß, daß man mit

Luftangriffen ohne Einsatz von Bodentruppen einen Krieg nicht gewinnen, geschweige denn einen von gut bewaffneten aufgeputschten Truppen bedrohte Volksgruppe schützen kann. Die NATO-Planer haben

daher aller Wahrscheinlichkeit nach die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo sowie den kommenden Einsatz von Bodentruppen von Anfang an einkalkuliert. Die Entscheidung für den Bombenangriff dürfte

nicht aus humanitären Gründen gefallen sein. Diese sind nur vorgeschoben. Vorsichtige konservative Beobachter wie der Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, der CDU-Politiker Willy

Wimmer, spricht diesen Verdacht auch deutlich aus:

"Ich gehe davon aus, daß gegenwärtig die gesamte internationale Rechtordnung auf dem Prüfstand steht. Und es dabei offenkundig innerhalb der NATOeine Diskussion gibt, sich der OSZE zu entledigen.

Dafür hat man vielleicht mit dem Kosovo-Konflikt den Ansatz gefunden."

Ein anderer konservativer Experte, Karl-Heinz Kamp von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn, beschreibt in der Beilage der Wochenzeitschrift des Deutschen Bundestages "Das Parlament" den NATO-

internen Diskussionsstand vor Ausbruch des Balkan-Krieges wie folgt:

"Die NATO wird sich in ihrem neuen Strategischen Konzept (es soll demnächst in Washington beschlossen werden) nicht auf Formulierungen festlegen, die eine Einschränkung des Bündnisses · sei es durch

den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder durch die OSZE · bedeuten würden . . . Statt dessen wird das strategische Konzept ausdrücklich · wenn auch in allgemeiner Form · erklären, daß

militärische Aktionen der NATO jenseits der Bündnisverteidigung, immer auf der Grundlage des Völkerrechts und im Sinne der Charta der Vereinten Nationen erfolgen werden." Daß dabei das Völkerrecht

und die Charta der UN nach NATO-Gutdünken "interpretiert" werden sollen, liegt auf der Hand und ist spätestens seit dem nunmehrigen Vorgehen gegen Jugoslawien manifest geworden.

Die amerikanischen Außenministerin Albright läßt an anderer Stelle (in der Zeitschrift "Foreign Affairs") wissen, daß die strategische Ausrichtung der NATO hin zum Prinzip der Verteidigung

"gemeinsamer Interessen" geändert werden müsse. Die UNO-Charta hingegen postuliert das Universalitäts-Prinzip. Wenn das UNO-Mandat entsorgt wird, dann ist es klar, wer die "gemeinsamen Interessen"

definiert, nämlich die USA als einzig verbliebene Supermacht. Der CDU-Politiker Wimmer erhebt dagegen schwerwiegende Bedenken. Denn das geplante und derzeit in Jugoslawien getestete neue

Strategische Konzept der NATO öffne "die Welt dem Faustrecht".

Der Historiker Jörg Fisch, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich schreibt dazu in "Die Weltwoche" (8. April 1999):

"Die Hegemonie der Vereinigten Staaten ist in Europa kaum weniger ausgeprägt als in Lateinamerika. Doch wird Europa stärker als Einheit behandelt, wie die NATO zeigt. Das Grundproblem der

Willkürherrschaft, die sich statt auf eine Rechtsordnung auf moralische, nahezu beliebige manipulierbare Parolen stützt, ist damit nicht aus der Welt geschafft. Aktionen wie diejenigen der NATO in

Jugoslawien sind Bausteine für eine neue Weltordnung in der Form einer sich permanent auf Moral berufenden Perversion des Rechts und zugleich Sand in die Augen einer moralsüchtigen Öffentlichkeit."

Im Inland: Erosion der

Bürgerrechte

Die Mißachtung der Regeln und Institutionen, die das zwischenstaatliche Verhalten zivilisatorischen Prinzipien unterwirft, findet ihr Pendant in der binnenstaatlichen Rechtsentwicklung. So wird

z. B. ein österreichisches Verfassungsgesetz, wie es das Neutralitätsgesetz ist, von Ministern und Abgeordneten, die den Eid auf die Einhaltung der Bundesverfassung abgelegt haben, als obsolet

bezeichnet, verächtlich gemacht und umgangen. Wenn es überholt wäre, müßte das Gesetz geändert und bis dahin eingehalten werden.

Der Einsatz der deutschen Bundeswehr in Jugoslawien verlangt von den Soldaten den Bruch des von ihnen geleisteten Eides. Der politisch angeordnete Eidesbruch untergräbt die Rechtsgrundlage des

Militäreinsatzes.

Die gesetzliche Sanktionierung von Lauschangriff und Rasterfahndung oder der selbstlegitimierte Polizeieinsatz, auch ohne daß dem ein Gesetzesbruch vorausgeht, widersprechen den Grundsätzen eines

freiheitlichen Rechtsstaates. Der rasante Geltungsverlust des internationalen Rechtes und überstaatlicher Instanzen der Konfliktregelung findet in Erosion und Mißachtung nationalstaatlicher

Rechtsgrundsätze seine Entsprechung.

Engagement und

Distanzierung

Es ist nicht möglich, die Bilder des Entsetzens und der Zerstörung ohne Emotionen wahrzunehmen. Es sollten aber Emotionen nicht den klaren Verstand ersetzen. Beide sind notwendig, wenn man in

einer verfahrenen Situation einen Ausweg sucht, durch den das Ausmaß des Leids verringert werden soll. Zur Zeit herrschen Emotionen und die einseitige Parteinahme vor. In Kriegen, zumal in völkisch

aufgeladenen Bürgerkriegen wie diesen, ist die dem Außenstehenden einzig angemessene Geisteshaltung jene, nach der keine Partei allein recht oder unrecht hat.

Dem Prinzip der parteinehmenden "Solidarität" gehorchend, das in der Außenpolitik seit zehn Jahren die zuvor erfolgreich praktizierte Distanz gebietende Neutralität zunehmend ersetzt, leistet

Österreich seinen Beitrag zur Förderung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Keine noch so erfolgreiche Hilfe, deren humanitäre Dringlichkeit nur zu unterstreichen ist, wird jemals den Schaden

wiedergutmachen können, den der Ersatz von Verstand durch Emotion angerichtet hat. Im Eifer bleiben die Wahrnehmung der Wirklichkeit und die meistens in dieser auch vorhandenen Auswege auf der

Strecke. Wer die Zeitungen liest und das Fernsehen verfolgt möchte meinen, daß die meisten JournalistenInnen zu einer aktualisierten Auflage von Karl Krausens "Letzten Tage der Menschheit"

beitragen wollen.

Wer hat denn schon bedacht, daß die Vorverurteilung des Milosevic durch die Werte-Gemeinschaft diesem nur mehr drei Möglichkeiten offenläßt:

1. Getötet zu werden.

2. Selbstmord zu begehen. Das heißt, daß er

3. bis ans Ende kämpfen lassen wird.

Ihm, den die Werte-Gemeinschaft ohnedies frei von jeglichen Skrupeln hält, sind die Opfer gleichgültig. Der "Werte-Gemeinschaft", die um ihre Glaubwürdigkeit kämpft, wenn sie den Kopf des "Schurken"

Milosevic fordert, sind die Menschenopfer leider auch nicht mehr wert.

Wer klar denkt, kommt zu dem Ergebnis, daß die Fortsetzung der Bombardierung die Opfer in der albanischen und serbischen Zivilbevölkerung dramatisch erhöhen wird. Der Einsatz der NATO-Bodentruppen

wird das Ausmaß an Opfern und Leid weiter steigern. Die Destabilisierung weiterer Länder ist absehbar. Auch noch unbeteiligte Staaten, darunter die ärmsten in der Region wie Bulgarien und Rumänien,

wird schwerster wirtschaftlicher Schaden zugefügt. Die Forderung, den Krieg zu intensivieren bis das Milosevic-Regime kapituliert, ist humanitär nicht zu begründen. (So wurde am 29. April im

ungarischen Parlament über die Zukunft der Vojvodina diskutiert und dabei von Vertretern der großungarischen Idee die Sezession der Vojvodina gefordert.)

Die Forderung nach Vernichtung von Milosevic und die effektive Zerstörung dessen, was aus Jugoslawien übriggeblieben ist, entspricht dem Bedürfnis, die "böse Tat" zu rächen und den "Bösewicht" zu

bestrafen. Wieviel unschuldige Zivilisten und Soldaten dabei zugrunde gehen, das ist dem Rachegefühl egal.

Man sollte deshalb sich wieder eines distanzierenden Blicks bedienen, wie uns dies der bedeutende Zivilisationsforscher Norbert Elias überzeugend empfohlen hat. Wer Leben retten will, der muß die

NATO zur Beendigung des Luftkrieges und das Milosevic-Regime zur Einstellung der Vertreibung bringen. Die Aussicht auf eine Gelingen ist allerdings nach den gravierenden Regelverletzungen, die von

allen Konfliktparteien begangen wurden und werden, gering. Denn der Weg, der weniger Menschenleben fordert als die Fortsetzung der bisherigen Politik, würde die "Glaubwürdigkeit" der NATO, die

"gemeinsamen Interessen der Werte-Gemeinschaft" durchzusetzen, verringern.

Am Ende des mörderischen 20. Jahrhunderts und in den zehn Jahren seit dem Verschwinden des "Reiches des Bösen" ist die Barbarei wieder nach Europa zurückgekehrt. Es steht zu befürchten, daß sie sich

weiter nach Süden, Westen, Osten und Norden ausbreiten wird. Rückkehr zur Geltung internationalen Rechtes unter dem Schirm der UNO ist, diesmal ist es so, die einzige Alternative. Auch wenn sie

reformbedürftig ist, bleibt die UNO unersetzbar. Sie hätte schon längst gestärkt statt geschwächt werden sollen.

Insbesondere relativ machtlose Länder müssen interessiert sein, daß Regeln eingehalten werden, auch und gerade von den Mächtigen. Das war auch der Grund, weshalb Österreich in der UNO stets die

besondere Wichtigkeit des Völkerrechts betont hat. Heute agieren österreichische Politiker mit der Billigung der NATO-Intervention gegen die Interessen des eigenen Landes.