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Rückkehr ins Leben nach 53 Jahren

Von Eszter Szamado

Wissen

Mehr als 50 Jahre hat Andras Tomas isoliert in einer russischen Psychiatrieanstalt gelebt, ohne dass sich jemand für ihn interessiert hätte. Seit der 75-Jährige als wahrscheinlich letzter Kriegsgefangener in einer psychiatrischen Anstalt 800 km östlich von Moskau entdeckt wurde, kann er sich vor Anteilnahme, Fürsorge und vermeintlichen Verwandten nicht mehr retten. Vor wenigen Tagen kehrte er in seine Heimat zurück und genießt die wiedergewonnene Freiheit.


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Nach mehr als fünf Jahrzehnten habe er wieder zu schreiben begonnen und mache sogar Witze, berichteten seine ungarischen Betreuer am Freitag. Die Ärzte sind nun auf der Suche nach seinem Geburtsort, seiner wahren Verwandtschaft und seinem tatsächlichen Namen.

"Wann immer wir ihn Andras Tamas nennen, sagt er, er kenne niemanden mit diesem Namen", sagt Tvrtko Vujity, der den Alten seit seiner Rückkehr betreut. Alle existierenden Dokumente wiesen ihn jedoch als Tamas Andras Andrasevitch aus. In Russland wurde er Veer zufolge "Tomba" gerufen. Jetzt habe er jedoch einen anderen Namen angegeben und reagiere auch auf ihn.

Zwei kleine Dörfer im Nordosten Ungarns bezeichnete er als seine Heimat. Jedoch wollen die Ärzte weder Namen noch Ortsangaben veröffentlichen, solange sie nicht überprüft sind. "Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken", sagt Andras Veer, der Chef des Budapester Institutes für Psychiatrie und Neurologie.

Anfang August wurde der 75-Jährige geistig verwirrt in der psychiatrischen Anstalt von Kotelnitsch entdeckt. Er war 1945 als junger Soldat in Gefangenschaft geraten, als er für Rumänien gegen die Rote Armee kämpfte. Nach zwei Jahren Zwangsarbeit kam er in die Psychiatrie, wo er sich 53 Jahre lang nur mit Händen und Füßen verständigte, weil er kein Wort Russisch spricht und niemand Ungarisch verstand.

Zurück in Ungarn findet der 75-Jährige den Ärzten zufolge Gefallen an seinem neuen Leben. "Er macht Witze und bricht in großes Gelächter aus", sagt Vujity. "Als ich ihn ins Bett schickte, meinte er ,Nur Frauen gehen früh schlafen´, als ich ihm Trauben anbot: ,Das ist fast so gut wie Alkohol´." Vor allem freue er sich über fließendes, warmes Wasser und frisches Brot. Unter den jahrhundertealten Bäumen im Park des Instituts habe er sich seinen Lieblingsplatz eingerichtet.

Fremden gegenüber hege er jedoch großes Misstrauen, vor allem seit immer mehr vermeintliche Verwandte auftauchen. "Wir haben jeden Tag drei bis vier Leute hier, die sich als Verwandtschaft ausgeben", erzählt Veer. Seit sich am Samstag drei Frauen als Ehefrau und Töchter des Mannes vorstellten, sind so genannte Verwandtenbesuche nicht mehr erlaubt - beim Zusammentreffen mit den drei Frauen habe der 75-Jährige nämlich keinen glücklichen Eindruck gemacht.

Seit seiner Rückkehr wurde der gebrechliche Mann in Budapest umfassend untersucht. Hinweise auf Schizophrenie seien dabei nicht mehr gefunden worden - er sei jetzt geistig gesund. Bald werde er auch eine Prothese für sein vor zwei Jahren amputiertes Bein erhalten. Über die 53 Jahre in Russland sprach er bisher nicht. Dagegen erzähle er über seine Kindheit, eine große Reise, den Krieg und seine jüngste Rückkehr, sagte Veer. In wackliger Schrift habe er auch wieder zu schreiben begonnen - zuletzt über Soldatenkleidung und Schuhe.