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Rückkehr nach Thessaloniki

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Verfolgt vom Erdogan-Staat, suchen immer mehr Türken in der ehemals osmanischen Metropole Zuflucht.


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Thessaloniki. Der kleine Laden mit blickdichten Schaufenstern nahe dem berühmten Weißen Turm in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki hat nicht einmal ein Geschäftsschild. In den zwei vollgestopften Räumen stapeln sich Honiggläser, Nudeltüten, Bohnenkonserven, an Kleiderstangen hängen Second-Hand-Klamotten, in Regalen liegt Kinderspielzeug. Doch so unscheinbar das Lager wirkt, es birgt die Keimzelle von etwas Großem: die Rückkehr der Türken in die einstmals zweitgrößte Stadt des Osmanischen Reiches. 1881 wurde hier Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, geboren.

Die vier Männer, die an diesem nasskalten Tag hier nach Kleidung suchen, sind nicht freiwillig nach Thessaloniki gekommen. Sie sind aus der Türkei geflohen. "Das Warenlager ist extrem wichtig für uns", sagt der 34-jährige Vedat Erdogan, der die Räume verwaltet. "Unsere Ersparnisse reichen zum Leben nicht aus, wir sind auf die Hilfe der ,Cemaat‘ angewiesen." Das türkische Wort bedeutet "Gemeinde" und bezeichnet im Alltagsjargon die Sekte des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für den versuchten Militärputsch vom Juli 2016 verantwortlich macht - was der Geistliche bestreitet.

"Damals wurde unser Leben komplett auf den Kopf gestellt", klagt Vedat Erdogan, der aus der ostanatolischen Stadt Gaziantep stammt und als Pädagoge für die "Cemaat" tätig war. Wie er wurden hunderttausende Anhänger der Bewegung, die lange Erdogans autoritäres System gestützt hatte, über Nacht zu "Terroristen", ihrer Arbeit beraubt. Zehntausende sind verhaftet worden. Inzwischen ziehe der Staat sogar die Autos von Geflüchteten ein, sagen die Migranten im Warenlager, das Gülenisten mit Spenden aus Europa aufgebaut haben.

Die Zahl der Türken und Kurden, die nach Griechenland fliehen, steigt beharrlich, im Vorjahr hat sie sich gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, denn die "Säuberungen" in der Türkei nehmen kein Ende. Viele Flüchtlinge wählen inzwischen die gefährliche Route über die Landgrenze am reißenden Evros-Fluss statt über die ägäischen Inseln mit ihren berüchtigten Hotspot-Lagern.

In der Schule habe er gelernt, dass die Griechen Feinde seien, doch die Wirklichkeit sei überraschend anders, sagt Vedat Erdogan. "Die Griechen haben uns gerettet!" Die vier Männer im Warenlager sind Angehörige einer neuen, religiös geprägten und gut ausgebildeten türkischen Mittelschicht. Sie alle waren Lehrer an Gülen-Schulen. Dass sie ausgerechnet in Griechenland landeten, ist letztlich gar nicht so abwegig. "Meine Großeltern stammen aus Thessaloniki, ich kehre jetzt zurück", sagt einer der Männer. Alle vier wollen in Thessaloniki, wo sie auf ihren Asylbescheid warten, ein neues Leben beginnen.

Vedat Erdogans Geschichte ist exemplarisch. In den Tagen nach dem Putschversuch wurden seine Kollegen und Freunde verhaftet. Seine Frau sollte neun Jahre hinter Gitter, weil sie ein Studentenwohnheim der Gülen-Bewegung leitete. Da entschieden sich die Eheleute zur Flucht. An einem kalten Tag im Februar stiegen sie mit ihren beiden Kleinkindern in der türkischen Grenzstadt Edirne aus dem Bus und übergaben einem Schlepper 5500 Euro für die Passage. Am Evros mussten sie ein Schlauchboot besteigen und ans griechische Flussufer paddeln. "Wir hatten riesige Angst, aber alles lief glatt", sagt der kleine, freundliche Mann.

Seine Freunde sind mit ihren Familien erst vor kurzem nachgekommen. Alle drei wurden mit fadenscheinigen Beweisen wegen angeblicher "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu sieben bis neun Jahren Haft verurteilt - sie versteckten sich monatelang vor der Polizei. Die Frage nach der möglichen Beteiligung ihrer "Cemaat" am Putschversuch entlockt den Männern nur ein müdes Lächeln. "Das glauben wir nicht", sagen sie. "Falls es eine Verbindung gibt, wissen wir nichts davon."

Die vier Freunde haben ganz bewusst in Griechenland Asyl beantragt. Sie gehören zu einer wachsenden Gruppe von Flüchtlingen aus der Türkei, die nicht nach Nordeuropa weiterzieht, sondern in der Nähe der Heimat bleiben will. "Sich hier niederzulassen, ist leider extrem schwierig", sagt Vedat Erdogan. Die Arbeitslosenquote in Thessaloniki beträgt mehr als 25 Prozent, die mitgebrachten Ersparnisse gehen zur Neige. "Aber wir helfen uns gegenseitig."

Nach Erkenntnissen der griechischen Polizei stammen von den rund 14.000 Menschen, die von Jänner bis September 2018 illegal über den Evros kamen, etwa die Hälfte aus der Türkei. Der Anteil der Gülenisten werde nicht gesondert erfasst, aber er sei erheblich, sagt Sofia Aslanidou, Vorsitzende des städtischen Flüchtlingsrats von Thessaloniki. Die resolute Mittfünzigerin bestätigt insgesamt eine deutliche Zunahme von Flüchtlingen aus der Türkei.

"Fast wie bei uns zuhause"

Rund 6000 registrierte Asylsuchende leben derzeit in der Stadt, davon etwa ein Drittel aus der Türkei. Wer Asyl beantragt, hat Anspruch auf die Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die für eine vierköpfige Familie rund 400 Euro monatlich beträgt; das deckt gerade die Miete ab. "Wir helfen bei der Wohnungssuche, bei Sprachkursen oder der Einschulung der Kinder." Sie sieht den Zuzug mit Sympathie, denn die Neubürger würden sich extrem schnell integrieren. "Außerdem existieren bei uns keine Vorurteile gegen Türken. Hier gibt es viele Griechen, die Türkisch sprechen, weil sie früher in der Türkei lebten." Der Exodus der Gülenisten nach Griechenland hat allerdings die historischen Spannungen zwischen den Nachbarländern verstärkt. Die Türkei beschuldigt die Athener Regierung, "Terroristen" eine Heimstatt zu bieten, und fordert deren Auslieferung. Doch der Abbau des türkischen Rechtsstaats und zunehmende Berichte über Folter führen dazu, dass Asylgesuche von Gülenisten praktisch nicht abgelehnt werden. So wird Thessaloniki, die alte osmanische Metropole, jetzt zum Zentrum von Auswanderern aus der Türkei.

Linke und kurdische Flüchtlinge ziehen meist sofort weiter nach Athen, um von dort die Weiterreise nach Nordeuropa zu organisieren, bestätigt Ragip Duran, ein türkischer Journalist, der seit drei Jahren in Thessaloniki für eine oppositionelle Internet-Nachrichtenplattform arbeitet. Die Gülenisten vergleicht der 64-Jährige mit dem Opus Dei, der geheimnisumwitterten Elitetruppe des Vatikans. "Sie sind gut ausgebildet und anpassungsfähig." Thessaloniki sei ein idealer Ort für Türken: "Das Essen, die Gewohnheiten, selbst die Musik - alles ist fast wie bei uns zu Hause." Auch politisch sei Griechenland eine gute Wahl. Denn die Regierung in Athen müsse stets den Vorwurf entkräften, Ankara zu sehr entgegenzukommen - und schütze deshalb türkische Dissidenten.

Auf den Beistand der griechischen Regierung setzt auch Musa Yücel, ein 36-jähriger, einst sehr erfolgreicher Unternehmer aus der türkischen Schwarzmeerstadt Sinop. Er lebt seit vier Monaten mit seiner Frau und drei Kindern in einer kleinen Altbauwohnung in Thessaloniki. Die Nähe der Stadt zur Türkei gibt ihm zu denken. "Der türkische Geheimdienst MIT entführte schon in vielen Ländern Gülenisten", klagt er.

Besuch vom Geheimdienst

Vor Kurzem war Yücel in Athen, um sich mit einem Freund aus Sinop zu treffen. Zum Abendessen sei überraschend ein Cousin von Fethullah Gülen gekommen, der gerade die Türkei verlassen habe, erzählt er. "Kaum saßen wir zusammen, klingelte es an der Tür, und sechs Mitarbeiter des griechischen Geheimdienstes baten um Einlass. Sie wollten den Gülen-Cousin und uns vor dem MIT warnen." Yücel gehörte in der Türkei zur Führungsschicht der Gülenisten. In Sinop leitete er eine Gülen-nahe Bildungsfirma, die zehn Privatschulen für rund 3000 Schüler betrieb. Er flog oft nach Europa und Afrika, um internationale Messen und andere Gülen-Schulen zu besuchen. "Der Staatsanwalt beschuldigte mich der Geldwäsche und Finanzierung der Gülen-Bewegung. Aber sie konnten trotz mehrerer Razzien nichts finden - weil es da nichts gibt."

Zehn Tage nach dem Putschversuch wurde Musa Yücel dennoch verhaftet und acht Monate lang eingesperrt. In Verhören habe man ihm mit der Vergewaltigung seiner Frau gedroht, sagt er. Der kräftige Mann ließ sich nicht einschüchtern, versteckte sich nach der vorläufigen Haftentlassung neun Monate bei Freunden. "Wegen der schweren Vorwürfe bestand die Gefahr massiver Folter im Gefängnis. Deshalb beschloss ich schließlich im April die Flucht nach Griechenland."

Auch für ihn geht es jetzt darum, beruflich wieder Fuß zu fassen und seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Tatsächlich ist Musa Yücel der erste Migrant aus der Türkei, der in der Stadt einen Imbiss mit türkischen Spezialitäten wie Döner, Börek und Baklava eröffnen wird. Einen Grund, auf die Gülen-Bewegung wütend zu sein, sieht er trotz des unfreiwilligen Exils nicht. "Es kann sein, dass Einzelne kriminell sind und sich auch an dem Putsch beteiligt haben", sagt er. "Aber ich bin 20 Jahre bei der Bewegung und habe kein einziges Mal Gewalt oder Korruption wahrgenommen."

Ähnlich argumentiert die 34-jährige türkische Journalistin Tuba Güven, aber sie lässt Zweifel zu. Die zweifache Mutter aus Istanbul, die ihr blondes Haar offen trägt, ist an diesem Tag ins Warenlager der Gülen-Bewegung gekommen, um ein Kopftuch für eine Freundin auszusuchen. "Es gibt in der ,Cemaat‘ jetzt eine interne Debatte", erläutert sie. "Es ist klar, dass Politik und Religion strikt getrennt sein müssen. Unsere Bewegung öffnet sich." Aber die Türkei sei im Innern vergiftet. "Es gibt keinen Rechtsstaat mehr, das Leben ist wie ein ziviler Tod. Ich gehe nie wieder zurück." In Thessaloniki habe sie einen regelrechten Heilungsprozess durchlebt, sagt sie. "Hier habe ich erfahren, was Freiheit bedeutet."