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Die Türkei, wo am 3. November vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden, macht Druck in Richtung EU-Beitritt. Nach dem Reformpaket zur kurdischen Volksgruppe und der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten hat das Parlament in Ankara auch ein neues Gesetz für mehr Arbeitnehmerrechte verabschiedet.
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Das umstrittene Gesetz soll künftig von Arbeitgebern willkürlich ausgesprochene Kündigungen von Arbeitnehmern unterbinden - und kostete im Vorfeld dem Arbeitsminister das Amt. Durch das neue EU-konforme Gesetz sollen Arbeitgeber verpflichtet werden, die Gewerkschaften mindestens einen Monat vor geplanten Kündigungen zu informieren. Zulässige Kriterien für eine Kündigung sind in einem Katalog zusammen gefasst. Sollte ein Arbeitnehmer dennoch willkürlich gekündigt werden, kann der Betroffene von dem Unternehmen ein Jahresgehalt als Entschädigung verlangen. In Kraft treten soll die neue Regelung im März kommenden Jahres.
Trotz Krise keine Willkür
Türkische Unternehmer hatten sich bis zuletzt vehement gegen die Gesetzesänderung gestellt. Ihre - rein wirtschaftliche - Argumentation: Das neue Arbeitsrecht schränke sie bei Einstellungen und Entlassungen zu sehr ein. Wegen des starken Widerstandes aus dem Arbeitgeberlager war noch vor der Abstimmung im Parlament Arbeits- und Sozialminister Yasar Okuyen zurückgetreten. Die Türkei steht in der Tat unter großem wirtschaftlichen Druck: Auf die Wirtschaftkrise, die im Februar vergangenen Jahres begann und mit einer massiven Abwertung der türkischen Lira einherging, folgte die Rezession - an der die fast 70 Millionen Türken seit nunmehr eineinhalb Jahren laborieren. Rund eine halbe Million haben bisher ihren Arbeitsplatz verloren.
Die schwere Erkrankung von Premierminister Bülent Ecevit, der wochenlang nicht öffentlich in Erscheinung trat, verschlimmerten die Situation zusätzlich. Doch ausgerechnet Ecevit gelangen zuletzt innerhalb kürzester Zeit entscheidende Reformbeschlüsse, wenngleich er von der Notwendigkeit von vorgezogenen Neuwahlen erst überzeugt werden musste. Bis Ende dieses Jahres erwartet die Türkei von der EU ein Datum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, und Ankara macht gehörig Druck. Die Union ihrerseits gibt sich nach außen hin gelassen und spielt den Ball an die Türkei zurück: Erst müsse man sich die Umsetzung der Gesetzesreformen in der Praxis ansehen; außerdem müsse sich die türkische Seite auf der Suche nach einer Lösung der Zypern-Frage noch bewegen, lässt Brüssel Ankara ausrichten.
Abwartende EU
Die EU müsse die Reformen in der Türkei anerkennen. Gleichzeitig dürfe man "der Türkei nichts versprechen, was nicht einzuhalten ist", mahnt EU-Abg. Hannes Swoboda, Leiter der SPÖ-Delegation und Türkei-Berichterstatter des EU-Parlaments. "Die jüngsten Reformen müssen eine Intensivierung der Beziehungen nach sich ziehen, wir sollten aber Frust und Enttäuschungen durch falsche Versprechungen vermeiden", plädiert Swoboda für eine offene und ehrliche Diskussion. Die EU könnte der Türkei vor einem Beitritt einen Zwischenschritt in Form eines "Europäischen wirtschaftlichen und politischen Raums" anbieten, erneuert Swoboda seinen Vorstoß.