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Rudolf Nagiller

Von Irene Prugger

Reflexionen
Rudolf Nagiller: "Ich laufe und gehe, weil ich mich gerne bewege, nicht um sportiv zu sein." Foto: privat

Der einstige TV-Informationsdirektor und nunmehrige "Club 2"-Moderator und Buchautor Rudolf Nagiller über die schwierige Lage des ORF, den Unterschied zwischen Sport und Bewegung - und das von ihm propagierte "10.000 Schritte-Programm".


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"Wiener Zeitung": Herr Nagiller, auf welcher Seite sind Sie lieber: Auf der Seite des Fragenstellers oder des Befragten? Rudolf Nagiller: Obwohl das Befragtwerden meiner Eitelkeit schmeichelt, fühle ich mich als Fragesteller doch wohler, denn lieber bin ich der Herr des Verfahrens als das Objekt, das seziert wird. Leute auszufragen befriedigt zudem meine Lust, mich mit Menschen auseinanderzusetzen. Es gibt nichts Spannenderes, als sich anderen Menschen neugierig nähern zu können.

Das gilt auch für Interviews, jedenfalls wenn sie länger als ein paar Minuten dauern und nicht bloß Ritualcharakter haben. Als Interviewer habe ich außerdem den Vorteil, dass die Befriedigung meiner Neugier, wenn ich sie sensibel handhabe, gesellschaftlich akzeptiert wird.

Sind Sie deshalb Journalist geworden?

Davon bin ich überzeugt. Dazu kommt noch, dass ich etwas Lehrerhaftes in mir habe. Ich erzähle gern weiter, was ich erfahre, ich möchte, dass andere daran teilhaben können und bringe es auch gern in eine erzählbare Form - das gilt für meine Arbeit beim Fernsehen genauso wie für meine Zeitungsartikel oder Bücher.

Womit wir beim ersten zentralen Thema wären - Ihren Büchern. Ihr zuletzt erschienenes heißt "No sports! Aus Liebe zur Bewegung". Wie darf man diesen Titel verstehen? Sind 10.000 Schritte pro Tag, die Sie in dem Buch propagieren, kein Sport?

Ich reihe das 10.000 Schritte-Programm nicht unter Sport ein, sondern unter Bewegung, so wie ich auch beim Radfahren keinen Sport betreibe, sondern Bewegung mache. "Sport" assoziiert man mit höher, weiter, schneller, also mit Leistung. Dagegen habe ich nichts, ich glaube nur, dass das auf die Dauer niemand durchhält. Wir brauchen aber das ganze Leben lang Bewegung. Auch als ich noch gelaufen bin, habe ich das nie unter dem Gesichtspunkt der Leistung betrieben, sondern ich habe mich einfach gern bewegt in jenem Rahmen, der mir gut tat. Vom Laufen bin ich zum Gehen gekommen, weil ich gemerkt habe, dass die Gelenke nicht mehr so mitspielen. Mit zunehmendem Alter ist nicht die Kondition das Problem oder der Kreislauf - dieser wird ja trainiert - sondern das "Gestell", das nicht mehr so mitmacht wie früher.

Rudolf Nagiller. Foto: ORF

Erklären Sie das 10.000 Schritte-Programm bitte einmal genauer!

Das Programm basiert auf Forschungsergebnissen der Universität Gent in Belgien und ist sehr einfach mit "10.000 Schritten am Tag" umrissen, wobei jeder Schritt zählt, schon morgens der erste aus dem Bett. Menschen unserer Lebensweise kommen im Durchschnitt auf 4000 bis 6000 Schritte pro Tag. Um auf 10.000 zu kommen, müsste man also zusätzlich Gehen. Ziel ist es daher, die Lebensweise so umzustellen, dass sich die Mindest-Schrittzahl in den Alltag integriert. Damit man nicht mitzählen muss, was ja absurd wäre, empfiehlt sich ein Schrittzähler. Da ich viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin und viele Wege zu Fuß zurücklege, brauche ich an zwei Dritteln meiner Tage kein zusätzliches Bewegungsprogramm.

Was hat sich für Sie geändert, seit Sie so konsequent Bewegung betreiben?

Vor fünfzehn Jahren habe ich mit dem Laufen begonnen, weil ich gemerkt habe, dass es körperlich ohne Bewegung mit mir langsam aber sicher bergab ginge. Jetzt bin ich 67 Jahre alt und fühle mich fit und ausgeglichen. Ich bin aber kein Gesundheitsapostel - im Gegenteil. Mir ist der Gesundheits- und Wellnesstrend suspekt. Er trägt die Züge einer Parareligion.

Das kommt mir vor wie in Werfels "Der veruntreute Himmel". Die Menschen glauben, wenn sie - wie sie meinen - brav leben, also regelmäßig Wellness-Programme absolvieren und sich bewusst ernähren, dann können sie sich Gesundheit erkaufen. Aber Gesundheit ist letztlich ein Geschenk, das man dankbar annimmt, wenn es einem beschert ist. Besser ist es, sich am inneren Wohlbefinden zu orientieren. Dieses kann man im Gegensatz zur Gesundheit spüren, und man kann etwas dafür tun, nämlich Bewegung und gesunde Ernährung. Nur, was gesunde Ernährung ist, darüber lässt sich streiten. Die Ernährungslehre ist nämlich eine weiche Wissenschaft. Was heute als gesund gilt, wird in 100 Jahren vielleicht genauso belächelt wie heute der Aderlass. Am meisten vertraue ich meinem inneren Ernährungswissenschafter; der hat Millionen Jahre Erfahrung. Ich habe meine Bücher über das Laufen und Gehen übrigens nicht für den Markt geschrieben oder um die Menschen zu einer gesünderen Lebensführung zu missionieren, sondern für mich selbst. Mich hat das Thema interessiert.

Mit welchen Themen werden Sie sich als nächstes befassen? Sie haben einmal gesagt, das Altern interessiert Sie.

Es wäre wohl langsam Zeit, mich damit auseinanderzusetzen - und es könnte sein, dass das irgendwann tatsächlich auch mit einem Buch geschieht, aber sicher nicht mit einem weiteren Jubelbuch wie "Fit bis ins hohe Alter" oder so. Weit mehr interessieren mich neue Arbeits- und Lebensmodelle für ältere Menschen. Früher hat hauptsächlich die Jugend neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert, bei meiner Generation waren das zum Beispiel die WGs, mittlerweile ist man auch im Alter auf der Suche. Dass es so viele alte Menschen gibt, fordert uns heraus. Noch ist es ein Tasten und Probieren, die Vorstellungen vom richtigen Leben ändern sich.

Ich merke das an mir selbst. Freundschaften, Beziehungen und Zuneigung sind mir nun wichtiger als zu Zeiten, als ich mich noch dem Berufswahnsinn verschrieb.

Haben Sie das Gefühl, diesbezüglich etwas versäumt zu haben?

Nein, denn es war richtig zu seiner Zeit und jetzt ist es anders, aber ebenfalls richtig. Ich hatte viel Lebensglück und ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Wobei mein Lebensglück auch das Epochenglück einer ganzen Generation war. Ich musste in keinen Krieg ziehen, und obwohl ich aus kleinen Verhältnissen komme, war es mir möglich, die Matura zu machen und dann gar noch zu studieren. Beides war für meinen Vater noch undenkbar. Ich gehöre zu einer privilegierten Generation.

Glauben Sie, Ihre Generation hat deshalb eine Bringschuld gegenüber den jüngeren Generationen?

Nein. Jede Generation findet ihre eigenen Bedingungen vor. Darauf haben wir letztlich wenig Einfluss. Ich halte es für eine Hybris, zu glauben, eine Generation müsste nur an ein paar Schrauben drehen, um den Verlauf der Epoche zu ändern. Ein kluger Mann hat gesagt, die Gesellschaft kann man nicht verändern, sie verändert sich selbst. Wenn ich das zitiere, kommt gelegentlich der Einwand, ich drücke mich vor der Verantwortung für das Ganze. Ich sehe das anders.

Vor zwanzig Jahren war ich einmal für einige Stunden in einer Gesprächstherapie, dort habe ich auch über mein Gefühl gesprochen, der Welt etwas schuldig zu sein für all das Gute, das mir widerfahren ist. Seither spende ich für verschiedene Organisationen. Oder für einen armen Romabettler, obwohl manche sagen, das solle man nicht tun, weil dahinter eine mafiöse Organisation steckt. Das kann schon sein, aber meine persönliche Wahrheit ist eine andere. Und als Journalist arbeite ich oft gratis für NGOs. Für die UNICEF war ich als Beauftragter für HIV und Aids mehrmals ohne Honorar in Afrika unterwegs. Ich kann keine Kranken behandeln, klar, aber ich kann mich dafür einsetzen, dass die Helfer Publicity bekommen.

Apropos Publicity: Warum sind Sie zum "Club2" zurückgekehrt?

Die Bildschirmarbeit war für mich eigentlich erledigt, ich bin vor mehr als zehn Jahren im Alter von 56 Jahren beim ORF ausgestiegen, um noch einmal ein anderes Leben führen zu können und dachte nicht daran zurückzukehren. Aber meine Kollegen Elmar Oberhauser und Karl Amon - beide sind ja nicht mehr in ihren damaligen Funktionen - haben mich, den zuerst Widerstrebenden, überzeugt, dass ich es tun soll. Jetzt moderiere ich den Club gern.

"Sport assoziiert man mit höher, weiter, schneller, also mit Leistung. Ich glaube, dass das auf Dauer niemand durchhält": Rudolf Nagiller im Gespräch mit "W.Z."-Mitarbeiterin Irene Prugger. Foto: privat

Es wird oft kritisiert, dass der "Club 2" in seiner Neuauflage viel an Brisanz verloren hat.

Seit seiner ersten Auflage sind mehr als dreißig Jahre vergangen, die Rahmenbedingungen sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Das war eine ganz andere Medienepoche, der ORF hatte noch sein Monopol und der allgemeine Talkshow-Wahnsinn hatte noch nicht begonnen. Der "Club 2" war damals eine Innovation und jede Pionierzeit hat etwas Wunderbares. Deshalb wurde sie auch nachträglich zu einer Heldenzeit hochstilisiert. Den Kampf gegen den eigenen Mythos kann man aber nicht gewinnen. Solche Sendungen müssen außerdem polarisieren, das ist heute viel schwieriger. Die öffentliche Akzeptanz beim heutigen "Club 2" ist dennoch hoch, weshalb es richtig war, ihn wieder einzuführen.

Die öffentliche Akzeptanz des ORF hingegen nimmt immer mehr ab. Hängt das nach Ihrer Einschätzung mit seiner gegenwärigen Führung zusammen?

Dieses Unternehmen hat mir sehr viele Chancen und Möglichkeiten gegeben, deshalb habe ich es mir selbst auferlegt, die ORF-Führung nicht öffentlich zu kritisieren. Ich will daher auch nichts zu den bedauerlichen Geschehnissen der letzten Wochen sagen. Sie hat es schwer genug, schwerer als wir es damals hatten. Darüber können wir schon reden, wenn Sie wollen.

Aber ja, reden wir darüber. . .

Letztlich läuft es darauf hinaus, dass das Modell öffentlich-rechtlicher Rundfunk in einer Zeit erfunden wurde, die es nicht mehr gibt. Die Rahmenbedingungen werden für dieses Modell immer ungünstiger. So wie inzwischen übrigens mit einer gewissen Zeitverzögerung auch für die kommerziellen Sender. Das hat zur Folge, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk geschwächt wird, was es der Politik möglich macht, ihn wieder stärker in Besitz zu nehmen. Das wird ihn weiter schwächen. Dazu kommt noch, dass die nur über Werbung finanzierten kommerziellen Medien die öffentlich-rechtlichen Sender, die Gebühren einnehmen, als unfaire Konkurrenz empfinden. Daher berennen sie den ORF wie eine Burg, die es zu stürmen gilt. Das verstehe ich irgendwie, dennoch müssen die beiden Systeme lernen, miteinander auszukommen.

Dazu kommt schließlich, dass das Bild vom "reinrassig" öffentlich-rechtlichen ORF eine Fiktion ist. Von der Finanzierung her ist er ein Hybrid. Einerseits öffentlich-rechtlich, andererseits muss er ein gutes Drittel seiner Einnahmen durch Werbung aufbringen. Die deutsche ARD zum Beispiel finanziert sich nur zu wenigen Prozent aus Werbeeinnahmen, das Bayerische Fernsehen ist darauf überhaupt nicht angewiesen. Der ORF muss aber auf den Werbemarkt, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, weil wir ein so kleines Land sind. Die Gebühreneinnahmen allein würden nicht ausreichen. Fazit: Der ORF ist in einer strategischen Defensive, das trägt nicht gerade zu seinem Selbstbewusstsein bei. Als ich vor vierzig Jahren anfing, waren wir in einer strategischen Offensive.

Möglicherweise ließe sich das Selbstbewusstsein durch ein Bekenntnis zu mehr Qualität in der Programmgestaltung erhöhen?

Auf Diskussionen über Qualität und Niveau möchte ich mich gar nicht einlassen, das ist letztlich eine Definitionsfrage. Fest steht, dass der ORF sowohl auf öffentliche Akzeptanz als auch auf die vielzitierte Quote angewiesen ist. Die Quote kann man messen, aber die öffentliche Akzeptanz wird hauptsächlich von der oberen, der meinungsbildenden Schicht definiert. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mehr und mehr nur noch Programm für dieses Zuschauersegment machen und dessen Kulturvergnügen finanzieren, denn dann wird die Geschichte auch von einem sozialen Standpunkt aus kritisch. Das wäre im Extrem so etwas wie eine öffentlich-rechtliche Apartheidsituation: Die einen zahlen, die anderen sehen fern. Es zahlen ja auch jene Menschen Gebühren, die etwa den "Musikantenstadl" sehen wollen. Sie haben auch ein Recht auf ihr Vergnügen. Wer weiß, vielleicht wird Fernsehen irgendwann nur noch als Pay-TV angeboten, dann zahlt jeder das, was er sieht. Bei seiner derzeitigen Finanzierungsform kann der ORF es sich jedenfalls nicht leisten, bei einem Marktanteil von 20 Prozent zu landen. Bereits sein derzeitiger Marktanteil von Mitte 30 Prozent ist kritisch.

Die Musikantenstadl-Liebhaber kommen aber doch keineswegs zu kurz!

Mag sein. Aber übersehen Sie nicht, der ORF bringt auch viel Kultur und hochwertige Information. Oder die Programme der Landesstudios: Ein privates System könnte das niemals finanzieren. Würde der ORF zusperren, würden wir sofort ein Identitätsvakuum spüren. Es sind vielleicht auch gar nicht die Musikanten-stadl-Liebhaber, die zu kurz kommen, ich zitiere diese Sendung ja nur als Typus, mehr noch kommt die jüngere Generation zu kurz. Sie wendet sich immer mehr vom ORF ab. Offenbar bietet er ihnen zu wenig, obwohl sie genauso Gebühren zahlen müssen. Und ich rede jetzt von jenen jungen Menschen, die überhaupt noch fernsehen. Denn das kommt ja noch dazu, dass das Internet bei der jungen Generation die Pole-Position übernommen hat.

Schauen Sie selber viel fern?

Nicht mehr so viel, seit sich meine Interessen weg von der Tagesaktualität verlagert haben. Ich kenne ja die Rituale und Drehbücher der Informationssendungen alle auswendig. Der zweite Grund: Ich lebe jetzt ein zeitsouveränes Leben und setze mich nicht mehr gern zu einer bestimmten Uhrzeit vor den Fernseher. Deshalb finde ich die ORF-TVThek großartig, wo man sich Sendungen noch eine Woche lang ansehen kann. Das Hauptmedium ist aber auch bei mir bereits das Internet geworden. Außerdem lade ich Radiosendungen als Podcasts herunter. Ich habe einerseits also ein sehr junges Medienverhalten, aber andererseits auch ein sehr konservatives. Denn ich lese täglich Qualitätszeitungen, wie etwa die "Süddeutsche", aber auch gute österreichische Zeitungen.

Zur Person

Rudolf Nagiller, geboren 1943, verbrachte seine Kindheit in Tirol, die Jugendjahre in Vorarlberg: 1962 Matura an der Handelsakademie Bregenz, danach Studium der Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck. Nach einer Doktorarbeit bei Finanzminister Stephan Koren 1967 Promotion.

Ab 1968 Journalist im ORF, zuerst im Landesstudio Vorarlberg, zwei Jahre später holen ihn Generalintendant Gerd Bacher und Chefredakteur Franz Kreuzer nach Wien.

Rudolf Nagiller kletterte die Karriereleiter hinauf bis zum Informationsdirektor Fernsehen. Vor einem Jahrzehnt stieg er aus dem ORF aus, um "noch einmal ein anderes Leben zu beginnen": Jenes besteht nun aus öffentlichen Interviews und Moderationen (auch wieder für den "Club 2"), Gesundheits-Büchern, wie etwa - zusammen mit dem Feldenkrais-Guru Wim Luijpers - dem Bestseller "Gentle Running" und 2008 "No Sports - Aus Liebe zur Bewegung" (Kremayr & Scheriau) und ehrenamtlichen publizistischen Arbeiten, wie etwa für UNICEF in Afrika oder "Nepal Trust", eine Wiener Mediziner-NGO. Rudolf Nagiller ist in den letzten Jahren zu einem leidenschaftlichen Geher geworden.

Irene Prugger, geboren 1959, lebt als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin in Mils. Zuletzt ist von ihr das Buch "Alm Geschichten. Vom Leben nah am Himmel" (Loewenzahn, 2010) erschienen.