Zum Hauptinhalt springen

Ruf nach politischer Mitsprache

Von WZ-Korrespondentin Brigitte Reisenberger

Politik
Aufstand gegen das Polit-Establishment in Sofia.
© reisenberger

Massenproteste gehen weiter - Zeltlager vor dem Parlament errichtet.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Sofia. Seit drei Wochen tragen Bulgaren ihre Wut und ihre Frustration auf die Straße. In Plowdiw wurde letzte Woche die Regionalzentrale des niederösterreichischen Stromanbieters EVN in Brand gesteckt. Was als Protest gegen hohe Strompreise und ausländische Stromversorgungsunternehmen startete, hat sich zu einem Protest gegen die politische Elite und Kultur entwickelt. Am Sonntag marschierten wieder Zehntausende durch die Städte. Aktivisten schlugen vor dem Parlament in Sofia Zelte auf, um Änderungen im Wahlgesetz zu erzwingen. "Die Stromrechnungen waren nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", meint Georgi Medarov von Xaspel, einem Zentrum für politische Debatten und Kunst in Sofia, der selbst demonstrieren geht. "Durch die Proteste zieht sich die Kritik an der politischen Repräsentation und ein Aufruf für direkte Demokratie."

Der Rücktritt der Regierung Borissow hat den Protesten keinen Abbruch getan, er wurde vielmehr als das feige Verlassen eines sinkenden Schiffs gedeutet. Die Politik der konservativen, pro-europäischen Gerb-Partei, geprägt von Korruptionsskandalen und dem Einfrieren der Löhne des öffentlichen Diensts und der Pensionen, hat weite Teile der Bevölkerung von der Regierung entfremdet. Dank der strikten Haushaltsführung ist das Budgetdefizit eines der niedrigsten der EU, gleichzeitig weist Bulgarien aber auch die niedrigsten Durchschnittslöhne der EU auf und erschütternd kleine Pensionen. Viele alte Bulgaren müssen sich in den Wintermonaten zwischen Heizung, Essen und Medikamenten entscheiden, weil sie sich nur zwei der drei Dinge leisten können. Diesen Winter haben alleine Stromrechnungen monatliche Pensionen überschritten. Seit Beginn der "Stromrevolte" gab es bereits drei Fälle von Selbstverbrennungen, am Montag erlag der zweite seinen Verletzungen.

"Die Protestierenden hier sind zum größten Teil einfache Leute, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können", sagt Georgi Medarov von Xaspel, einem Zentrum für politische Debatten und Kunst in Sofia. Dazu gesellen sich Teile der Umweltbewegung, NGOs und verschiedene rechte und linke Gruppierungen. Diese Heterogenität ist eine große Herausforderung. "Leider gibt es sehr viel Chaos und Fehlkommunikation zwischen den Organisatoren der Proteste. Sie versuchen alle Stimmen zu hören, aber die gehen naturgemäß nicht alle in dieselbe Richtung. Die einen fordern die Nationalisierung, die anderen die Liberalisierung des Energiesektors", schildert Vania Grigorova. Sie ist Präsidentin der Gruppe Solidarna Bulgaria und hat bei einem Telekommunikations- und Onlinemarketingunternehmen gearbeitet, bevor sie jetzt als Koordinatorin in einer NGO tätig ist. Die Gruppe Solidarna Bulgaria hat sich vor vier Jahren gegründet, war bei Umweltprotesten, gegen Monopole im Telekommunikationssektor, den Abbau im Bildungssektor oder Diskriminierung aktiv. Ursprünglich entstand die Gruppe als Kritikplattform an der Sozialistischen Partei. Die Gruppe Solidarna Bulgaria hat sich vor vier Jahre gegründet, war bei Umweltprotesten, gegen Monopole im Telekommunikationssektor, dem Abbau im Bildungssektor oder für Anti-Diskriminierung aktiv. Ursprünglich entstand die Gruppe als Kritikplattform an der Sozialistischen Partei. "Aber jetzt beschäftigen wir uns nicht mehr mit ihnen, denn die Führungsriege zeigt keinerlei Interesse, unsere Meinungen anzuhören." Die Verdrossenheit an Parteipolitik zieht sich durch das gesamte politische Spektrum.

Ein Weg, gehört zu werden

Auch die 34-Jährige und ihre Familie sind von den plötzlich exorbitant hohen Stromrechnungen betroffen. Grigorova hat die Zahlen mitgebracht: Die letzte Dezember/Jänner Rechnung liegt 138 Prozent über dem Durchschnitt der letzten vier Jahre. "Die Proteste in Sofia sind für mich eine Möglichkeit diese Probleme öffentlich anzusprechen - mit denen ich offensichtlich nicht alleine bin." Die ganze Familie geht gemeinsam auf die Straße. "Mein Vater hat viele seiner Kollegen bei den Protesten getroffen."

In Reaktion auf die Proteste hat Premier Bojko Borissow eine achtprozentige Senkung der Stromkosten vorgeschlagen, die Energieregulierungsbehörde spricht jedoch lediglich von einem möglichen Schnitt von 6,4 Prozent.

Um zur Deeskalation beizutragen, hat Präsident Rossen Plewneliew am Samstag Teile der Protestbewegung zu einem Treffen geladen. "Es war eine Farce!", empört sich Mariana Hristova. Sie ist dieser Tage eine gefragte Frau bei Radiosendern und Aktivistentreffen. Gerade kommt sie vom besagten Meeting mit dem Präsidenten höchstpersönlich und ist aufgebracht. "Sie haben praktisch versucht, uns mit den Personen an denselben Tisch zu setzen, die unsere Probleme erst geschaffen haben, etwa mit Repräsentanten der Oligarchie und der Industrie." Die Vertreter der Protestbewegung verließen daraufhin das Treffen.

Für den 12. Mai sind vorgezogene Wahlen angesetzt. "Das gibt nicht genug Zeit, neue Parteien zu gründen. Das bedeutet, dass die nächste Regierung eine geringe Legitimität haben wird und vielleicht in ein bis zwei Jahren das Opfer eines ähnlichen öffentlichen Unmuts sein wird", prognostiziert Hristova. Konkrete Bestrebungen innerhalb der Protestbewegung, Parteien zu formen, gibt es jedoch bislang keine. Der Frust sitzt zu tief. "Die Gruppierungen brauchen dennoch Zeit, alternative Politik-Vorschläge zu formulieren und vorzubringen."

Wahlrechtsreform soll her

Die Gruppe rund um Mariana Hristova macht sich stark für eine Aufhebung der Immunität der Abgeordneten, die Schaffung von Möglichkeiten, Abgeordnete abzuwählen und für eine Änderung der Wahlgesetzgebung, die mehr Bürgerpartizipation ermöglicht, etwa ein Recht auf Vorzugsstimmenvergabe und die Öffnung des Wahlprozesses für Bürgerlisten von unabhängigen Kandidaten. "Wir hoffen, dass es so ehrliche Leute ins Parlament schaffen, die diese eingeschworene Clique aufbrechen, die sich breitgemacht hat." Die Forderungen wurden am Sonntag an den Präsidenten übergeben. "Wir werden sehen, ob er etwas unternimmt, dann werden wir weitere Schritte überlegen."

Ruf nach Selbstregierung

An den Markständen am Zhenski Pazar gehen trotz der Proteste die Menschen wie gewohnt ihren Gemüseeinkäufen nach. An einer Bankfiliale hat sich jemand mit einer roten Farbdose ausgetobt und "?????? - Diebe" an die Mauer gesprayt. Ein paar Seitenstraßen weiter in einem Hinterhof eines Wohnhauskomplexes findet eines der vielen Bürgerforen statt, die sich seit dem Aufflammen der Proteste gebildet haben. In dem kühlen Raum haben sich 45 Personen eingefunden, versammelt um einen Heizstrahler in der Mitte. Eine Frau protokolliert das Treffen auf einem Laptop, sie ist eine der wenigen anwesenden Frauen. Ein Mann Mitte 50 leitet das Treffen. "Wir wollen nicht mehr länger manipuliert werden, wir wollen uns selbst regieren", sagt er und erntet zustimmendes Nicken. Auch eine mögliche Verfassungsänderung wird thematisiert. Online kursieren schon mindestens drei neue Bürgerverfassungen. "Island ist ein gutes Beispiel, sie haben ihre eigene Verfassung geschrieben und ihre Bürger an die Macht gebracht", lautet ein Einwurf.

"Unser übergeordnetes Ziel sollte sein, den Kapitalismus zu überwinden", wirft ein Mann mit Glatze ein. "Mit Leuten, die das nicht so sehen, kann ich nicht zusammenarbeiten." Eine junge Frau in der letzten Sesselreihe entgegnet ihm scharf: "Wir sollten uns nicht als anti-kapitalistisch deklarieren, weil wir so viele Personengruppen ausschließen."

"Die Protestierenden haben riesige Ambitionen und erwarten viel zu viel von diesen Protesten", gibt sich Vania Grigorova realistisch. "Wir können nicht zwanzig Jahre lang still sein, nicht protestieren und dann erwarten, mit einem Protest das ganze System zu reparieren - politisch und ökonomisch. Es gibt diesen Aufbruch für Erneuerung, das ist natürlich begrüßenswert, aber es braucht auch einen Zeitpunkt für nüchterne Analyse und Reflexion."