Die Ursachen für die lästigen Ohrgeräusche sind ebenso Diskussionsinhalte wie wirksame Heilverfahren. Fest steht, der Lebensstil muss geändert werden.
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Vielen Menschen macht die Diagnose Tinnitus Angst. Das Ende der Ruhe. Der Anfang unerträglicher Zeiten und ständiger akustischer Belästigung. In den einschlägigen Foren treffen Weltschmerz, Trauer und Selbstmitleid aufeinander. Auf den ersten Blick durchaus verständlich und nachvollziehbar, doch macht es das Problem nicht besser. Im Gegenteil. Will man seinen Tinnitus in den Griff bekommen, muss man sich dem Thema stellen und die Herausforderung annehmen.
Vor ziemlich genau fünf Jahren hatte meine Lebensgefährtin die Diagnose "Tinnitus" erhalten. Woher er kam und warum die Geräusche nicht wieder gingen, man weiß es nicht. Nach den ersten Standardbehandlungen und dem derzeit gängigen Abklärungsverfahren, dazu später mehr, ging es zu einer Neurologin. Dass dieser Schritt mehr als unnötig war, tut hier vorerst nichts zur Sache, macht aber deutlich, dass die Tinnitus-Therapie unterschiedlichste Ansätze kennt und verfolgt und dabei doch stets ein möglichst ganzheitlicher gewählt werden sollte. Was bei der Neurologin nun aber das Thema war, war die erste Frage von Patientin an Ärztin: "Werde ich je wieder ein normales Leben haben? Kann man mit diesem Tinnitus wirklich wieder normal leben?" Die Antwort war ebenso kurz, wie knapp und lautete "Selbstverständlich, ja". Es zeigt, wie schlimm und alleine sich die Tinnitus-Patienten zu Beginn fühlen. Dieses ständige Geräusch im Ohr wird zum Quell des Unwohlseins und löst eine Spirale der Verzweiflung aus. Am Anfang sieht es nahezu ausweglos aus, doch das Leben geht weiter, nicht nur weil es muss, sondern auch weil man sich schnell umgewöhnen kann.
Zahlreiche Experten gehen davon aus, dass viele berühmte und bekannte Musiker einen Tinnitus hatten. Und nur in den seltensten Fällen soll dieser Zustand zu einem Van Goghschen Ohrabschneiden geführt haben. Unterstützt wird diese Theorie auch dadurch, dass bei einem Tinnitus in vielen Fällen zu einer Musik- und weniger zu einer Maltherapie geraten wird. Ohrgeräusche gelten in der Musikbranche, darf man den Berichten glauben, auch heute durchaus als Usus. Und dabei geht es nicht nur um die Nachwirkungen lauter Konzerte.
Ein großer Raum, viele weiße Sessel mit Infusionshalterungen, gutes Personal und eine verständliche Handzeichensprache, das ist alles was es braucht, will man sich dem Kampf einer immer häufiger werdenden Krankheit stellen. Wer den Raum betritt, sieht Männer und Frauen jeden Alters, in der gleichen Haltung das Ende der Infusion abwartend. Manche lesen, andere versuchen sich mit Musik die Zeit zu vertreiben. So richtig große Lust auf Konversation scheint niemand zu haben. Und trotzdem, ruhig ist es nicht. Zumindest nicht in den Ohren der Patienten hier. Das verbindende Element der Anwesenden nennt sich Tinnitus, jene lästige andauernde Geräuschkulisse im Ohr, die Betroffene quält und in den letzten Jahren ein ganzes Buchregal an Ratgebern gefüllt hat.
Es rauscht, zischt, pfeift, surrt und summt im Ohr — die Rede ist vom Tinnitus. Aber was bedeutet dieser Befund eigentlich? Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "das Klingeln". Rund eine Million Österreicherinnen und Österreicher leiden darunter. Manche so sehr, dass sie nicht mehr schlafen können, den Spaß am Leben verlieren, depressiv werden und sogar den Job verlieren. Die Ursachen sind vielfältig. Entzündungen des Ohrs, Infekte, Durchblutungsstörungen, Stress und vor allem eine intensive Lärmbelastung können Auslöser sein. Die Ohrgeräusche sind nur ein Symptom für eine mögliche Innenohrschädigung. In vielen Fällen kommt dazu noch eine Geräuschüberempfindlichkeit, die Hyperakusis. In Österreich sind etwa 800.000 bis eine Million Menschen von quälenden Ohrgeräuschen betroffen, rund 200.000 davon sind chronische Tinnitus-Patienten. Besteht ein Hörgeräusch länger als sechs Monate, wird von einem chronischen Tinnitus gesprochen. Die Wahrscheinlichkeit einer Spontanheilung oder einer medizinischen Beseitigung wird dann als unwahrscheinlich eingeschätzt.
Zum Jahreswechsel knallten nicht nur die Sektkorken, sondern auch die Raketen und Böller. Ein Fest für Pyromanen, eine Gefahr für die Gesundheit und eine hektische Zeit für viele HNO-Ärzte. Zahlreiche Patienten der Tinnitus-Kliniken sind zu Jahresbeginn Opfer der Silvester-Knallerei geworden, aber keineswgs die Mehrheit. Eine Schülerin hat dem Stress von Hausaufgaben, Prüfungen und Leistungsdruck nicht mehr standgehalten. Ein Manager ist am Einsparen und der Frustration am Arbeitsplatz zerbrochen. Eine ältere Dame dürfte die Ohrgeräusche jahrelang nicht bemerkt haben, sie dachte, ihr Hörgerät würde dauersurren. Nun scheint sie fast erleichtert, dass endlich jemand herausgefunden hat, was wirklich los ist.
Es zeigt sich zunehmend, dass in einer Leistungsgesellschaft der Körper letztendlich dem Geist seine Grenzen aufzeigt. Was früher als Versagen empfunden wurde, ist nun, und das ist gut so, als zutiefst menschlich erkannt worden. Es geht nicht immer alles nach Plan, kein Urlaub, keine Erholungspause, kein Abschalten, das geht nicht. Und wenn der Mensch nicht reagiert, es gibt fast immer deutliche Frühwarnzeichen, dann kommen Tinnitus, Hörsturz, Burn-Out und Probleme im Bewegungsapparat und sorgen endlich für die notwendige Ruhe. Gerade jene Personen, die sich nach Ruhe sehnen, etwa Lehrer, Sozial-arbeiter, Manager aber auch Schüler, sind von diesen Symptomen betroffen. Und wer nach Ruhe verlangt, selbige aber nicht bekommt, der verzweifelt. Vielfach wird jedoch ein entscheidender Definitionsfehler begangen: Ruhe ist nicht Stille. Ruhe meint Entspannung und Ruhe ist ein innerer Zustand. Stille meint hingegen, das Fehlen von Geräuschen. Wer also Ruhe will, meint vielfach nicht Stille, und umgekehrt – beides wird aber meist vermischt. Gibt es in der heutigen Zeit denn überhaupt Stille? Sind wir nicht von Lärm von morgens bis abends umgeben? Würde uns die absolute Stille nicht noch mehr ängstigen? Würde man nicht erwarten, dass hinter dem nächsten Baum ein gefährliches Raubtier lauert? Fehlte nicht jedem, der das erste Mal alleine wohnte, das Geräusch der früheren Mitbewohner? Schläft man nicht besser, wenn man neben sich jemanden atmen hört? Zugegebenermaßen ist damit nicht Schnarchen gemeint. Entspannung kann man lernen, Ruhe kann man finden, Stille hingegen ist eine Illusion.
Das für Patienten nervtötende Ohrgeräusch Tinnitus kann zwar nicht geheilt, aber durch eine Kombination mehrerer Therapien gemildert werden. Zu diesem Schluss kamen niederländische Forscher von der Universität Maastricht, wie die britische Fachzeitschrift "The Lancet" berichtete. Die Wissenschafter testeten ihre Kombinationsmethode aus psychologischer Behandlung und Hörtherapie an 245 Erwachsenen. Nach einem Jahr sah die Gruppe eine Besserung um durchschnittlich 33 Prozent. Eine Kontrollgruppe, die mit herkömmlichen Mitteln behandelt worden war, verzeichnete dagegen nur eine Besserung um 13 Prozent. Die Experten hätten nichts gegen das Ohrgeräusch an sich unternommen, sagte Studienleiterin Rilana Cima. "Obwohl die Leute nach der Behandlung immer noch das Geräusch hören, bezeichnen sie sich als geheilt." Der Tinnitus müsse zu einem bequemen Schuh werden, der einfach nicht mehr gespürt werde.
Die Lieblingsmusik
Auch die ihre Lieblingsmusik soll Tinnitus-Patienten helfen, das lästige Pfeifen im Ohr zu bekämpfen. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie hatte gezeigt, dass die Intensität der Ohrgeräusche durch das Musiktraining im Durchschnitt um 25 Prozent sinkt. "Musik hat alle unsere Kulturen und Entwicklungsstadien begleitet und fast alle Menschen mögen sie", sagte Professor Christo Pantev vom Institut für Bio-magnetismus und Biosignalanalyse. Bei dem Therapieansatz sucht jeder Patient seine Lieblingsmusik aus. "Wir schneiden dann bestimmte Frequenzen aus dieser Musik heraus", sagte Pantev. Der herausgefilterte Teil des Klangteppichs hätte für gewöhnlich die Tinnitus-Nervenzellen angesprochen. Das falle dann allerdings weg, nur deren Nachbarn würden gereizt. Diese Nachbarzellen wiederum sollen die Tinnitus-Neuronen hemmen.
Gute Erfolge lassen sich aber auch mit Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) in Kombination mit Akupunktur erzielen. Aus Sicht der TCM ist Tinnitus vorrangig nicht als eine Funktionsstörung des eigentlichen Hörsystems anzusehen, abgesehen von Traumen, die irreparable Schäden im Hörapparat verursacht haben. Eine ausführliche Anamnese sowie Zungen- und Pulsdiagnostik fördern die zugrundeliegenden Störmuster der Organpaare, die für den Tinnitus, das Ohrgeräusch, den Hörsturz, verantwortlich zeichnen, zutage. Auch und gerade eine Psychotherapie kann bei Tinnitus hilfreich sein. "Psychotherapeutische Verfahren bieten zahlreiche Möglichkeiten, Techniken zur Bewältigung des belastenden Ohrgeräusches zu erlernen", erklärt Frank Bergmann, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN). Zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie: Dabei würden unter anderem Strategien zur Aufmerksamkeitsumleitung und Stressbewältigung aufgezeigt, mit denen die Belastung durch den Tinnitus minimiert werden könne. Psychodynamische Ansätze widmeten sich seelischen Belastungen, die hinter dem Tinnitus stecken könnten, Entspannungsverfahren trügen zum Stressabbau bei. Häufige Auslöser eines Tinnitus sind Stress, meist im Berufsleben, oder auch permanenter oder kurzfristig auftretender starker Lärm. "Ein plötzlich auftretender Tinnitus infolge eines Hörsturzes oder starker Lärmeinwirkung sollte unverzüglich mit durchblutungsfördernden Medikamenten behandelt werden", rät Bergmann. Er könne sonst chronisch werden. "Aber auch gelegentlich wiederkehrende Ohrgeräusche sollten ernst genommen werden und von einem Nervenarzt abgeklärt werden."
Es zeigt sich immer stärker, dass eine erfolgreiche Tinnitusbehandlung deutliche Parallelen zu einer Behandlung von Depressionen aufweist. In beiden Fällen gelte es, den Patienten nicht nur medikamentös, sondern auch mit therapeutischer Begleitung aus dem Sog der Erkrankung zu befreien. Das beste Rezept gegen den Tinnitus: Wahrnehmen, nicht dagegen ankämpfen, nicht bewerten und durchziehen lassen. Klingt auf den ersten Blick vielleicht nicht leicht, aber es hilft.