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In nur sieben Generationen verwandelte sich das Ruhrgebiet dreimal: Erst idyllisches Bauernland, dann der Kohlepott und heute Kulturhauptstadt Europas. Und morgen?
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Offiziell ist zwar Berlin die größte deutsche Stadt. Tatsächlich aber bilden Duisburg, Mühlheim, Essen, Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen, Bochum, Herne, Dortmund, Recklinghausen und andere Städte im Ruhrgebiet mit weit mehr als fünf Millionen Einwohnern eine zusammenhängende Riesenstadt, die drittgrößte in Europa.
Ein Problem sei, dass sich die Menschen im Ruhrgebiet nur mit ihrer Stadt identifizierten. Niemand komme auf die Idee, dass er "in einer einzigen großen Metropole lebt, die man eigentlich Ruhrstadt nennen müsste", meint der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann.
Noch im Jahr 1826 schrieb der Gartenkünstler Fürst von Pückler-Muskau über das Ruhrgebiet: "Nicht sattsehen konnte ich mich an der saftig frischen Vegetation, den prachtvollen Eich- und Buchenwäldern, die rechts und links die Berge krönen, zuweilen sich über die Straße hinzogen, dann wieder in weite Ferne zurückwichen, aber überall den fruchtbaren Boden bekränzten, braun und rot schattiert, wo er frisch geackert war, hell oder dunkelgrün schimmernd, wo junge Untersaat und frischer Klee ihn bedecken."
Währenddessen entwickelte sich der bis dahin ländliche Raum rund um den Rhein-Nebenfluss Ruhr zur größten montanindustriellen Region, zum "industriellen Herzen Europas". Kohle, Eisen und Stahl, Dampfmaschine, Eisenbahn, Chemie und Energie bilden die Eckpfeiler des Aufschwungs. Um 1800 hatte der industrielle Bergbau eingesetzt. In wenigen Jahrzehnten entstanden zahlreiche Zechen, bis 1850 fast 300. Insgesamt soll es bis zu 3200 einzelne (Klein-)Zechen im Ruhrrevier gegeben haben.
Ebenso rasch kam aber auch der Abstieg: Ergiebigkeit und Rentabilität des Kohlebergbaus überschritten um 1900 ihren Höhepunkt, bis sie mit der Kohlekrise Ende der 50er Jahre völlig zum Erliegen kamen. Derzeit sind nur noch vier Bergwerke aktiv.
Aus wahltaktischen Gründen hielt man jahrelang eine unrentable Struktur mit Steuergeldern am künstlichen Leben. Erst spät erkannten die Verantwortlichen, dass nur ein tiefgreifender Strukturwandel vom gewinnenden und erzeugenden Gewerbe hin zur Dienstleistung und Innovation die Zukunft sichern würde.
Allmählich begann man, die zerstörte Landschaft zu sanieren und das Wohnumfeld der "Zechenkolonien" und Arbeitersiedlungen zu verbessern. Flüsse wurden renaturiert, beispielsweise das Ruhrtal - heute ein Naherholungsgebiet. Industriebrachen wurden mit neuen Nutzungen wiederbelebt, etwa der Emscher Landschaftspark, die Hütte Duisburg-Meiderich oder der stillgelegte Gasometer Oberhausen, der zur Ausstellungshalle umfunktioniert wurde.
Die ehemals "schönste Zeche der Welt", der Zollverein in Essen und seit 2001 Welterbe, wird heute in seiner symbolischen Bedeutung gewürdigt. Stellvertretend für das Ruhrgebiet ist Essen heuer eine der drei europäischen Kulturhauptstädte. Und heute Abend um 18 Uhr fällt im Zollverein der Startschuss für das Kulturhauptstadtjahr Ruhr.2010. Unter dem Titel "Tausend Feuer" verwandelt sich das Welterbe in eine nächtliche Stadt der Künste.
Mit dem europäischen Kulturhauptstadtjahr will die Region zeigen, wie sich die "Metropole Ruhr" bislang entwickelt hat beziehungsweise weiter entwickeln kann und welchen Stellenwert Kultur dabei spielt. Ungeachtet dessen steckt das Ruhrgebiet nach Ansicht Winkelmanns in einer Identitätskrise. "Wir Ruhris wissen selber nicht, was das eigentlich ist, wo wir leben", erklärte der Filmemacher im Deutschlandradio Kultur.