)
In Veliko Tarnovo ist von Armut nur wenig zu sehen. Die ehemalige Hauptstadt Bulgariens, in der Mitte des Landes zwischen Hügeln gebettet, lockt mit ihrer jahrhundertealten Festung, prächtigen Fresken in orthodoxen Kirchen und herausgeputzten Handwerkerhäusern, die sich in mehreren Reihen am steilen Ufer des Flusses stapeln. Auf den Straßen sind die neuesten Automodelle zu sehen, in den Cafés sitzen modisch gekleidete Studentinnen der zahlreichen Universitäten, alle mit einem Handy ausgestattet.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es fließt viel Geld nach Bulgarien. An einem Bürgerhaus, das gerade renoviert wird, hängt eine Tafel, die über das "Beautiful Bulgaria Project" informiert, in dessen Rahmen die Instandsetzung erfolgt: 4,5 Millionen Euro stellt dafür die Europäische Union zur Verfügung, 635.000 Euro kommen von den Vereinten Nationen und 725.000 Euro von elf bulgarischen Gemeinden.
Weit höhere Summen investieren ausländische Unternehmen. Das Niedriglohnland Bulgarien ist vor allem als Einkaufsmarkt und Fertigungsstandort attraktiv. Allein die österreichischen Direktinvestitionen überstiegen im Vorjahr 1,3 Milliarden Euro, österreichische Exporte legten laut Wirtschaftskammer um ein Drittel zu. Bauwirtschaft und Tourismus boomen. Der Staatshaushalt erwirtschaftet Überschüsse, die bulgarische Wirtschaft wuchs im Vorjahr um rund fünf Prozent.
*
Doch all dies ist in erster Linie in Sofia, Stara Zagora oder Varna spürbar. Die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich verändert das nur langsam. Das Minimumgehalt beträgt nicht einmal hundert Euro, jeder zehnte Bulgare ist arbeitslos.
Die Privatisierungen sind so gut wie abgeschlossen: Seit 1993 wurden Staatsfirmen im Wert von 2,6 Milliarden Euro verkauft - und hunderttausende Menschen verloren ihre Jobs. Mehr als eine Million Menschen suchte sich in den letzten 15 Jahren Arbeit im Ausland. Eine hohe Zahl für ein Land mit knapp acht Millionen Einwohnern. Und die, die in Bulgarien bleiben, klagen oft: Es wird nicht besser. Eine Zahl aus dem Datenfundus der BA-CA gibt ihnen Recht: Die bulgarische Wirtschaft hat den Stand des Jahres 1989 noch nicht erreicht. Das Bruttoinlandsprodukt erreichte im Vorjahr erst 93 Prozent des Wertes von 1989. In Ungarn waren es 127 Prozent, in Polen 146 Prozent.
*
Die Lehrerin Natascha würde das in ihren Ansichten bestätigen. Die gebürtige Russin lebt und unterrichtet in einem Dorf 50 Kilometer von Veliko Tarnovo entfernt. Vor 16 Jahren ist sie aus Russland weggezogen. Ihr Mann war Bulgare, wollte immer in seine Heimat zurück. Vor drei Jahren ist er gestorben. Nataschas zwei Kinder gehen noch zur Schule.
In den letzten Jahren sei es schlechter geworden, meint die 50-jährige Frau. Wo sie herkommt - eine reiche Region in Sibirien - geht es den Menschen wesentlich besser als in den Dörfern in Bulgarien. Das Gehalt, das Natascha bekommt, reicht gerade, um Strom, Telefon und Heizung zu bezahlen. Die Rente nach ihrem Mann ist auch nicht üppig. "Meine Kolleginnen müssen dazuverdienen, um zu leben. Sie verkaufen etwas oder nehmen einen zweiten Job an. Zeit, ein Buch zu lesen, haben sie nicht", erzählt sie.
*
Wie leben die Menschen von nicht einmal hundert Euro, wie überleben sie? Das ist ein Mysterium, antwortet Natascha. Viele ihrer Nachbarn bauen Gemüse an - für den Eigenbedarf und um etwas zu verkaufen. Zwischenhändler holen es ab und verkaufen es teurer weiter. In Sofia kosten Tomaten fast genauso viel wie in Wien.
Vor kurzem hat eine Freundin aus der Hauptstadt Natascha besucht. In dem Dorf fühlte sie sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. "Hattest du früher auch so ein Gefühl?" fragte Natascha. Die Freundin verneinte. Das bedeute doch, dass sich in großen Städten etwas verändere, wenn auch nur langsam. Auf dem Land hingegen sei die Zeit stehen geblieben.