"Von fröhlichen Konsumenten wurden Russen zu unglücklichen Staatsbürgern."
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"Wiener Zeitung": Viele sprechen vom 21. Jahrhundert als das Jahrhundert Asiens. Wie meistert Russland eine Umorientierung Richtung Osten?Dmitri Trenin: Beginnen wir mit der Geschichte: Russland hat etwa China nie als stark, sondern immer nur als schwach gekannt. Man sah immer auf China herab. Jetzt ist genau das Gegenteil der Fall - und das geschah innerhalb etwas mehr als einer Dekade. Dennoch ist vermutlich Russland eines der wenigen Länder, das aufgrund des Aufstiegs von China nicht in Panik verfällt. Das mag an der Historie liegen, oder dass man glaubt, selbst wieder aufzusteigen, oder - und darüber wird nie gesprochen - an Rassismus. Der Erfolg Chinas wird aber vor allem in jenen Gebieten anerkannt, in denen Russland keinen hat, so etwa im Ausbau der Infrastruktur oder Chinas vergleichbar hohen BIP-Wachstumsrate. Man erkennt also an, dass China ein "großer Junge" geworden ist, hat aber keine Angst vor ihm. Russland muss sich auch auf andere asiatische Wachstumsländer fokussieren wie etwa Indien oder Vietnam, da Europa Jahre brauchen wird, bis es seine Probleme gelöst hat. Man will natürlich den Gashandel diversifizieren. Zudem sollen die Länder, die in Russland investieren und dadurch ihre Technologien teilen, breiter gefächert werden. In Frage kommen Japan, Südkorea oder Singapur.
Hilft die Kooperation mit asiatischen Ländern bei der Diversifizierung der russischen Wirtschaft weg von Energie?
Die wachsende Kooperation bringt neue Exportländer für Russland, aber diversifiziert nicht die russische Wirtschaft selbst. Das geht ohnehin nur, wenn sich das politische System Russlands ändert. Ohne Änderung des Systems gibt es keine wirtschaftliche Diversifizierung.
Wie könnte so eine Änderung vonstatten gehen? Und wer soll die Änderungen durchsetzen?
Mir persönlich ist egal, wer Russland regiert. Wenn Präsident Wladimir Putin das Paradies auf Erden schaffen kann, dann werde ich ihn unterstützen. Aber das Problem Russlands und Putins ist, dass er das vermutlich nicht tun kann. Es liegt am politischen und sozioökonomischen System Russlands, das zu Hindernissen für Entwicklung wurde. Es steht außer Frage, dass man die Wirtschaft diversifizieren will, Investitionen sucht und Innovationen unterstützen will. Aber die Realität ist, und das wurde von Putin und anderen Regierungsmitgliedern zugegeben, dass die Regierung einem System vorsteht, dem man - um auch nur irgendetwas tun zu können - mindestens 50 Prozent in Form außertourlicher Zuwendungen zahlen muss. Nun ist die Frage: Kann man eine Wirtschaft diversifizieren, die auf Korruption basiert, die ins System eingebaut ist?
Glauben Sie, dass Putin es nicht tun kann oder will er es nicht tun?
Bisher war Modus operandi des russischen Systems, dass Putin es als Spitze und Hauptprofiteur anführt. Seine Macht basiert auf dem Versprechen, dass er den Menschen unter ihm, die ihn unterstützen, im Gegenzug im Grunde alles erlaubt. So etwas ist sehr schwer zu ändern. Putin versucht es, aber in einer ihm charakteristischen Art - er macht einzelne, gezielte Schritte. Heute mag es der Verteidigungsminister sein, morgen jemand anders. Er macht es so vorsichtig, um nicht die Position der machtvollen Clans zu unterminieren. Wenn diese herausgefordert werden, würden diese mehr als zurückschlagen. Wenn Putin gegen alle gleichzeitig vorgehen will, müsste man das wie seinerzeit Stalin tun. Zum Glück hat er das nicht vor.
Wie sieht die Zukunft dann aus?
Die besten Köpfe Russlands haben Putin schon hinter sich gelassen, sie sehen ihn nicht mehr als Person, der die ganze Macht in der Hand hat. Da geht es nicht mehr so sehr um die Person Putins - sie sehen die Institution des Präsidenten nicht mehr als die richtige an, um Russland zu regieren. Sie wollen, dass die Regierenden Verantwortung übernehmen, und sie wollen daran teilhaben. Wenn man sie nicht lässt, kann sie das ziemlich aufregen und sie gehen auf die Straße. Aber auch die, die nicht demonstrieren, halten das System nicht mehr für legitim. Bisher wurde Russland immer von oben nach unten regiert. Das Land ist aber vielfältig, und alle unter einen Hut zu bringen ist nicht einfach.
Woher kommt dieser Wandel?
Die Russen sind sozusagen aus ihrem Kokon geschlüpft - sie sind nicht mehr damit zufrieden, sich nur um sich selbst zu kümmern. In den 1990er Jahren ging es ums Überleben, seit 2000 konnten sie Profit machen und jetzt haben sie höhere Interessen. In Russland sieht man einen Haufen fröhlicher Konsumenten, der sich in einen Haufen unglücklicher Staatsbürger gewandelt hat. Das ist ein großer Unterschied zu Ländern, die von der Finanzkrise getroffen wurden. Der Wohlstand bringt die Russen auf die Straße. Ich sage nicht, dass Russland in kürzester Zeit reformiert sein wird, aber es ist eine neue Agenda am Tisch.
Zur Person
Dmitri Trenin
ist Direktor des Moskauer Büros der "Carnegie Stiftung für Weltfrieden", einer US-Non-Profit-Organisation. In Wien sprach er auf der "BRIC Konferenz 2012" der Wirtschaftskammer.