)
Wenn am 1. Mai 2004 zehn ost- und mitteleuropäische Länder der EU beitreten, dann werden nicht alle EinwohnerInnen automatisch zu EU-BürgerInnen. Denn in Estland und Lettland besitzen hunderttausende Menschen eine russische Staatsbürgerschaft - oder auch gar keine.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Früher hätte es das nicht gegeben. Als im Mai bei der Eishockey-WM Lettland gegen Russland gewann, war die Freude auf den Straßen von Riga unübersehbar. Hunderte Jugendliche zogen durch die lettische Hauptstadt, in die rot-weiß-rote Nationalflagge gehüllt, Bierdosen haltend, singend und skandierend. Was mitschwang, war der Stolz einer Nation, die vor knapp zwölf Jahren ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt hat.
Nur wenige Wochen später versammelten sich abermals tausende Menschen im Zentrum der Stadt. Mit einem "Russischen Manifest" protestierten sie gegen Pläne der lettischen Regierung, ab kommendem Jahr die Staatssprache Lettisch zwingend als Hauptunterrichtssprache einzuführen. "Finger weg von den Schulen" hatten sie auf Plakate geschrieben. Und sprachen sich ebenso für die Verbesserung der Sprachenrechte der weißrussischen Minderheit in Lettland aus.
Von den rund 2,3 Millionen Menschen, die in Lettland leben, sind über 30 Prozent russischsprachig. Die Ansiedlungspolitik der UdSSR hat dort wie in Estland das Nationalitätenverhältnis umgekehrt. EstInnen und LettInnen wurden zu einer Minderheit. Mittlerweile beträgt der Anteil der lettischen Bevölkerung wieder knapp über 50 Prozent. Die Probleme, die Heterogenität mit sich bringen können, werden kaum angesprochen.
So haben rund 20 Prozent der Bevölkerung keine lettische Staatsbürgerschaft. Sowjetische Pässe haben ihre Gültigkeit verloren, viele beantragten kein neues Dokument. Die Einbürgerung geht nur schleppend voran. "Es gibt deswegen keine Konflikte", meint Armands Gütmanis, für Europaangelenheiten zuständiger Unterstaatssekretär im Außenministerium. "Die Menschen sind auch keine 5. Kolonne Moskaus, wie noch vor zehn Jahren behauptet." Dennoch legen viele RussInnen keinen Wert auf lettische Sprachkenntnisse, was LettInnen wiederum als Zeichen mangelnder Loyalität ansehen, räumt er ein.
Ähnlich stellt es sich in Estland dar. "Anfang der 90er-Jahre war die Trennung noch sehr stark", berichtet die Parlamentsabgeordnete Katrin Saks, die für Integrationsfragen zuständig war. "Es gab zwei Gesellschaften in einem Staat und dazwischen keine Kommunikation." Über ein Drittel der knapp 1,4 Millionen EinwohnerInnen ist nicht-estnisch. Davon sind an die 100.000 Menschen russische StaatsbürgerInnen, und über 160.000 besitzen gar keine Staatsbürgerschaft. "Vor zehn Jahren erwarteten viele Esten, dass die Russen wieder wegziehen, was aber nicht der Fall war", erzählt Saks. Doch die Toleranz wachse, zeigt sie sich überzeugt.
Zwar hätten die russischen StaatsbürgerInnen die gleichen Rechte im sozialen Bereich und brauchten - weil Estland ständiger Aufenthaltsort ist - keine Arbeitserlaubnis, sagt die Parlamentarierin. Doch vom Wahlrecht auf Bundesebene sind sie ausgeschlossen. Und genauso wie Nicht-StaatsbürgerInnen werden sie mit dem EU-Beitritt Estlands keinesfalls zu EU-BürgerInnen. Aus einem EU-Land kommend werden sie für die Einreise in andere EU-Staaten ein Visum brauchen. Und eine Einreisegenehmigung werden sie auch für Russland beantragen müssen. Hat Estland doch die Visumspflicht eingeführt.