"Halt deine Tasche fest." Schon beim Aussteigen aus der Straßenbahn ermahnt ein junger Mann seine Begleiterin. Sie sind auf dem Weg ins Stadion. Aber nicht zum Fußballschauen sondern zum Einkaufen sind sie gekommen. Denn im größten Stadion der polnischen Hauptstadt wird seit Jahren kein Match mehr ausgetragen. Stattdessen wird gehandelt, gefeilscht, verkauft und gekauft. Es ist einer der größten Basare Europas.
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Die lichte Seite Warschaus, mit der renovierten Altstadt und den gläsernen Hotel- und Bürowolkenkratzern des Zentrums, ist am anderen Ufer der Weichsel zu finden. Das am Ostufer gelegene Stadtviertel Praga hingegen ist noch immer berüchtigt. Wegen des gepantschten Alkohols, den es in dunklen Hinterhöfen der alten verfallenen Zinshäuser aus Backstein zu kaufen gab. Wegen der Grüppchen von jungen Männern im Trainingsanzug und mit kurz geschorenen Haaren, die durch die Straßen zogen. Wegen der Schlägereien. Und wegen angeblich im Auftrag der Mafia verübter Morde.
Dabei ist Praga schon längst auf dem Weg, sich zu verändern. Neue Einkaufshäuser entstehen, Künstler beleben das Viertel, alte Fabriken werden zu Veranstaltungszentren umgestaltet. Ein nächtlicher Spaziergang - von dem Warschauer Bekannte abraten - kann in einem mit wenig Mitteln, aber viel Hingabe hergerichteten Kellerlokal enden, wo ein Ukrainer Volkslieder singt.
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In Praga steht auch das Stadion des Zehnjährigen Jubiläums (der Gründung der Volksrepublik Polen). Teilweise aus dem Schutt des im Zweiten Weltkrieg zerbombten und zerstörten Warschaus gebaut, wurde es 1955 eröffnet. Für rund 70.000 Zuschauer konzipiert, fasste es in den folgenden Jahren auch immer wieder 100.000 Menschen - bei Spielen, aber auch zu staatlich gelenkten Aufmärschen und Erntedankfesten.
Bei einer derartigen Propagandaveranstaltung überschüttete sich dort am 8. September 1968 der 59-jährige Buchhalter Ryszard Siwiec mit Lösungsmittel und zündete sich an. Vier Tage später starb er im Krankenhaus. Sein Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei - an der auch sein Land beteiligt war - wurde von den offiziellen Medien totgeschwiegen.
Wenige Monate später verbrannte sich in der tschechischen Hauptstadt der Student Jan Palach. Auch er wollte ein Zeichen gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in seine Heimat setzen.
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Nach 1983 verfiel das Stadion zunehmend. Die Stadt vermietete das Objekt. So entstand der "Jarmark Europa". An der terrassenförmig angelegten Außenseite des Stadions drängen sich nun tausende Stände und Bauchläden aneinander, in mehreren durch Treppenaufgänge verbundenen Reihen übereinandergestapelt. Oben, wo der Wind am lautesten pfeift, sind die schlechtesten Plätze - dort bleibt aber auch mehr Zeit, um die Ware bei Polizeialarm schnell zusammenzuraffen.
Denn nicht alles wird legal angeboten. Zwischen asiatischen Blusen, russischen Büstenhaltern, gefälschten Markenjeans, Porzellan, Schmuck, Spielzeug und Schuhen lassen sich auch geschmuggelte Zigaretten, schwarz gebrannte CDs, DVDs und Computerspiele kaufen. Das Schild, das am Eingang prangt, kümmert keinen. "Der Handel mit CDs, DVDs, Programmen und ähnlichem ist verboten" steht darauf zu lesen. Auch Drogen und Waffen sollen auf dem Basar zu bekommen sein.
Unterschiedlich wie das Warenangebot ist auch die Herkunft des Verkaufspersonals. Neben Polen stehen Russen, Ukrainer, Armenier, Vietnamesen. Seit die Visumpflicht die Einreise aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion erschwert, sind immer mehr asiatische Verkäufer zu sehen.
Doch die Tage des alten Stadions scheinen gezählt. Es soll nämlich durch ein neues ersetzt werden - am besten rechtzeitig vor der Fußball-Europameisterschaft 2012, die in Polen und der Ukraine stattfindet. Wo die Verkäufer des "Jarmark Europa" künftig ihre Stände aufschlagen sollen, ist noch ungewiss.