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Russische Richtungssuche

Von Veronika Eschbacher

Politik

Der ehemalige Staatssekretär der Russischen Föderation Gennadij Burbulis über die Suche des Landes nach seinem Platz in der Welt.


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"Wiener Zeitung": Viele Russen sagen, die "Rückkehr" der Krim in die Russische Föderation sei eine "historische Gerechtigkeit". Teilen Sie diese Meinung?

Gennadij Burbulis: Aus Sicht der Krim-Bewohner ist der menschliche Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, dorthin, wo sie geboren und aufgewachsen sind, gerechtfertigt. Aber aus Sicht der modernen Weltordnung und der dadurch entstehenden außerordentlich gravierenden Folgen dieses Ereignisses ist das eine sehr schwere Belastungsprobe, deren genaue Form und Inhalt wir noch nicht vorhersehen können.

Sie waren ein enger Vertrauter des ersten gewählten russischen Präsidenten, Boris Jelzin. Wäre Jelzin, in dessen Zeit die Anfänge der Demokratisierung Russlands fielen, heute stolz auf seinen Protegé Wladimir Putin?

Es fällt mir schwer, mir dies heute aus der Sicht von Boris Nikolajewitsch vorzustellen. Damals wollte niemand von uns den Zerfall der Sowjetunion, aber er passierte. Als klar war, dass er unumgänglich ist und wir diese Entscheidung treffen müssen, war Jelzin der Allerletzte, der auf die Form der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) einwilligte. Aber er glaubte immer daran und sagte auch in vertraulichen Gesprächen, dass er sehr darauf hoffe, dass eine Integration der Länder auf einer neuen Ebene stattfinden werde. Er hoffte sehr, dass die Reformen in Russland auf unsere ehemaligen Sowjetrepubliken anziehend wirken würden. Und wenn das mit der Krim nicht in so einer konfliktreichen Form passiert wäre, hätte sich Jelzin natürlich darüber gefreut.

Analysten sagen, dass Russland die letzten zwanzig Jahre seinen Platz in der Welt gesucht hat, Putin bis vor kurzer Zeit Russland noch als Teil der größeren westlichen Familie sah. Gehört Russland zu dieser Familie oder nicht?

Die Strategie der langfristigen Entwicklung Russlands ist erschöpfend in unserer Verfassung von 1993 ausgedrückt. Sie entspricht gemäß ihren grundsätzlichen Normen und Prinzipien modernen demokratischen Werten, die manchmal auch westlich-europäische Werte genannt werden. Diese Wahl hat das russische Volk vor zwanzig Jahren getroffen. Es gibt aber in der Tat dieses sehr komplexe Problem der Erlangung einer russischen Identität. Dieses zu lösen, ist heute die wichtigste Aufgabe unseres Landes. Und meiner Ansicht nach wird sie früher oder später auf Grundlage der Verfassung entschieden werden.

Putin wurde in den letzten Wochen sehr oft mit seiner Aussage zitiert, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Die Perzeption der Sowjetzeit scheint sich in Russland gerade zu ändern. Was denken Sie, muss man sich für die Sowjetzeit schämen - oder darauf stolz sein?

Ich will mich auch dieser Formel bedienen. Für mich war der Zerfall der Sowjetunion, meiner Heimat, in der ich geboren wurde, wo ich aufgewachsen bin, die mich geformt hat, genauso wie für viele meiner engen Kameraden und Freunde eine Tragödie. Und mir scheint, dass jeder normale Mensch diesen Schock auch genau so empfand. Aber: Wir können nicht vergessen, welch grausam-repressives System das sowjetische Imperium war, wie viele Millionen Menschen gestorben sind, aufgrund der Haltung der kommunistisch-sowjetisch-bolschewistischen Macht, die Menschen, Nationen und Völker geringschätzte. Wir können nicht vergessen, dass das Land, das den Faschismus gemeinsam mit den Alliierten besiegt hat, das Land, das das leistungsstärkste militarisierte System der Welt geschaffen hat, das Land des ersten Satelliten und des ersten Kosmonauten seine Wirtschaft im Rahmen dieses sinnlosen Rüstungswettlaufs in den Ruin getrieben hat. Wir können den sinnlosen Krieg in Afghanistan nicht vergessen, die Ereignisse in Ungarn oder in der Tschechoslowakei. Unmenschlich ist derjenige, der sich den Verlust seiner Heimat nicht zu Herzen nimmt. Aber ohne Verstand ist der, der nicht versteht, dass dieses System nicht lebensfähig war. Dies war in den Wurzeln des sowjetischen Systems bedingt. Keine Ideologie kann die Menschen durch Gewalt glücklich machen.

Sie haben jetzt viele schreckliche Seiten der Sowjetunion aufgezählt. Dennoch nennen Sie den Zerfall eine "Tragödie". Wieso?

Weil es für uns den Verlust unserer Heimat bedeutete, dass die Heimat in ein Nichts verfiel und aufhörte zu existieren.

Warum ist Russen die Identifikation über ihre Heimat so wichtig?

Wir haben eine jahrhundertealte, überaus reiche, aber auch tragische Geschichte. In dieser finden sich immense geistige Höhepunkte, sei es im wissenschaftlichen, kulturellen oder auch technischen Bereich. Das macht es fast unmöglich, nicht dadurch mit Energie aufgeladen zu sein und Ehre und Liebe gegenüber dieser Heimat zu empfinden. Gleichzeitig liegt in der russischen Mentalität eine große Not, eine innere Zersplitterung. Als roter Faden zieht sich eine endlose Konfrontation zwischen Progressiven und Konservativen durch unsere Geschichte, zwischen Macht und Freiheit, zwischen geistiger Bildung und Verachtung des Menschen. Über Jahrhunderte hat das System die menschliche Individualität verachtet und es kostete dem russischen Volk jedes Mal wieder viele Talente, Mühe und Schöpferkraft, sich zu erhalten und sich weiterzuentwickeln. So etwas berührt den Menschen.

Putin spricht heute davon, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Zu dem Zeitpunkt, als die Sowjetunion zerfiel - hätten Sie damals gesagt, dass es einen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen gibt?

Warum nicht? Den Unterschied gab es ja auch damals. Er lag in der Geschichte jedes konkreten Lebensraumes, er hat sich auch nicht versteckt, er war immer da. Man muss aber heute verstehen, dass jeglicher Versuch, erneut Staatsgrenzen umzuzeichnen, nicht zulässig ist. Wir müssen alle gemeinsam die Verantwortung dafür tragen, dass wir nicht kurzsichtig handeln. Als das sowjetische Imperium zerfiel, wurden die Folgen des Zerfalls von uns erleichtert, aber auch naiv aufgenommen und ihre weitreichende Bedeutung nicht verstanden. Hier sehe ich als unmittelbar Beteiligter auch eine persönliche Verantwortung. Aber auch der Westen sah es zu einfach. Er entschied, dass er den Kalten Krieg gewonnen hatte, er hatte die Natur des sowjetischen Imperiums nicht verstanden, auch nicht, wie sehr die sowjetische Gesellschaft traumatisiert war. Er hat so wichtige Ergebnisse wie die freiwillige Aufgabe der Nuklearwaffen von Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan des Vertrags von Beloweschskaja Puschtscha (über die Auflösung der Sowjetunion, Anm.) nicht verstanden. Auch nicht, dass die Welt fortan andere Führungsregeln und andersgeartete Beziehungen brauchte. Heute ernten wir die Früchte dieser primitiven und vereinfachten Auslegung dessen, was damals geschah. Wir sollten die derzeitige Krise dazu nutzen, Geschehnisse und Beziehungen neu zu überdenken.

Gennadij Burbulis, geboren 1945 in Pervouralsk nahe Jekaterinburg, ist russischer Politiker und Aktivist. Burbulis war Anfang der 1990er Jahre der erste Staatssekretär der Russischen Föderation und galt als enger Vertrauter als "graue Eminenz" hinter Jelzin, zumindest in dessen ersten Präsidentschaftsjahren. Burbulis sprach vorige Woche beim Salzburg Global Seminar über die russische Zivilgesellschaft.