Der Anschlag in Norwegen lehrt: Mörderische Sekten gibt es rund um die Welt. Das nächste Mal könnten Terroristen chemische oder biologische Waffen wählen und damit Tausende töten.
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Das nächste Mal werden die Norweger wohl mehr Polizisten bewaffnen, und die Behörden werden die Manifeste jedes antimuslimischen Extremisten untersuchen, der beansprucht, eine Neuauflage des Templer-Ordens anzuführen. Aber der Anschlag von Anders Behring Breivik lehrt noch anderes: Mörderische Sekten gibt es rund um die Welt - einige in muslimischen Ländern und einige im Herzen Europas. Manche Attentäter werden von Gerichten als geisteskrank eingestuft werden, andere werden jedoch mit teuflischer Logik und Klarheit bestechen - man muss auf alle vorbereitet sein.
Das Wichtigste aber ist, dass das nächste Mal vielleicht keine Bombe als Waffe gewählt wird und auch kein halbautomatisches Gewehr. Die Attentäter, ob geisteskrank oder geistig normal, könnten Zugang zu chemischen oder biologischen Waffen haben und damit Tausende töten.
Wie bei Terroranschlägen oft der Fall, auch bei jenen der Al-Kaida, kam auch dieses jüngste Attentat nicht still und heimlich angeschlichen. Um die Gefahren, die diese Borderline-Extremisten darstellen, verstehen zu können, empfehle ich den neuen Bericht von Richard Danzig und seinen Kollegen vom "Center for a New American Security". Es handelt sich um eine Fallstudie über die bisher einzige Terrorgruppierung, die chemische und biologische Waffen erfolgreich eingesetzt hat - die japanische Religionssekte Aum Shinrikyo. Deren Mitglieder töteten 1995 im U-Bahn-System von Tokyo 13 Menschen und verletzten 6252. Ihre Waffe war Sarin, ein tödliches Nervengas.
Danzigs Untersuchung, basierend auf Interviews, die er in den vergangenen drei Jahren mit inhaftierten Anhängern von Aum Shinrikyo führte, ist sehr aufschlussreich. Sie zeigt, dass Extremisten zu immer giftigeren Waffen greifen. Und sie veranschaulicht, wie inaktiv die Polizei sein kann, bis die Katastrophe passiert. Obwohl japanische Polizisten Beweise hatten, dass Aum Shinrikyo chemische Waffen herstellte, konnten sie nichts unternehmen, da kein japanisches Gesetz die Herstellung von Giftgas ausdrücklich untersagte.
In diesen Terrorsekten herrscht meist Selbstbeschränkung - eine betonte Geheimnis- und Hierarchiekrämerei, die Mitglieder manchmal davon abhält, leicht erhältliche Materialen zu verwenden. So brauchen sie mehrere Versuche, bevor ihre Waffen richtig funktionieren. Aber sie sind hartnäckig und geben nicht auf. Diese Feststellung passt mit Sicherheit auch auf Al-Kaida - deren Terroristen sind wahre Meister, wenn es um die Methode von Versuch und Irrtum geht.
Die Geschichte von Aum Shinrikyo rankt sich um einen fast blinden, bärtigen japanischen Sektenführer, der sich Shoko Asahara nannte. Anfangs bestand die Gruppe aus friedlichen Yoga-Fans und Anhängern eines gereinigten Urbuddhismus. Asahara quälte seine Frau, bis sie sich seiner Vision anschloss. 1989 begann er mit Lebensmittelvergiftungen zu experimentieren, um ein abtrünniges Mitglied seiner Sekte zu töten.
Was Asahara, Breivik und Osama bin Laden gemeinsam haben beziehungsweise hatten, sind die grandiosen Pläne, um ihre politisch-religiösen Vorstellungen durchzusetzen. Asahara bezog seine Einfälle aus der Science Fiction.
Russisches Roulette spielt die Welt laut Danzig und seinen Koautoren im Umgang mit diesen extremistischen Gruppierungen und Sekten: "Viele Kammern im Revolver erweisen sich als harmlos, aber einige sind geladen." Überraschend ist, dass wir noch immer überrascht darüber sind.
Übersetzung: Redaktion
Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".