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"Russland benimmt sich nicht mehr"

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Chefpolitologe Missiroli im "WZ"- Interview: Russland von EU abhängig. | Politisierung des Energie-Bereichs durch Moskau. | "Wiener Zeitung":Die EU ist in ihrer Energieversorgung von Russland abhängig. Wird sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin heute in Lahti Menschenrechtsverletzungen oder den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja vorhalten, obwohl sie zuverlässige Gaslieferungen haben will?


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Antonio Missiroli: Es hat beim Treffen der EU-Außenminister am Dienstag eine Wende gegenüber Teilen der russischen Politik gegeben. Das erste Mal gibt es in den einstimmigen Beschlüssen ein eigenes Kapitel, in dem Russland kritisiert wird - wegen der Vorfälle mit Georgien. Bis vor kurzem war der gemeinsame Minimalkonsens mit Russland: Wir werden euch nicht wegen Tschetschenien, der Unterdrückung der Meinungsfreiheit oder der Kontrolle der Medien kritisieren, sofern ihr euch in der Außenpolitik und der Energieversorgung benehmt. Es gab lediglich einige Mitgliedsstaaten, die Russland kritisiert haben - etwa Dänemark wegen Tschetschenien. Aber jetzt benimmt sich Russland nicht mehr, und daher ist es legitim für die EU, ihre Bedenken vorzubringen.

Und Sie glauben, Putin nimmt die Erklärung der Außenminister ernst?

Ja. Mein Eindruck ist aber, dass Russland niemals den Aufforderungen der EU und des Westens vollständig nachkommen wird. Das ist ein Teil von Putins Politik. Er pflegt auch aus innenpolitischen Gründen das Image einer Supermacht - auch wenn es keine militärische mehr ist -, die Mitglied im G8-Club ist, aber ihre eigenen Wege geht. Etwa in den Bereichen Sicherheit, Energie oder Konfliktlösung in Krisenregionen wie am Balkan oder im Kaukasus.

Was meinen Sie damit, dass Russland sich nicht mehr benimmt?

Bis letztes Jahr gab es eine vernünftige Versorgungssicherheit. Dann war die Krise mit der Ukraine zu Jahresbeginn. Das erste Mal sind Zweifel über die Verlässlichkeit der Energieversorgung aus Russland aufgekommen. Zusätzlich drängen Unternehmen wie Gazprom auf den europäischen Markt und das nicht nur im Energiebereich. Die Russen haben erst unlängst einen erheblichen Anteil von EADS gekauft. Und schließlich wurde es Royal-Dutch Shell auf der Sachalin-Insel schwer gemacht. Das alles scheint eine zunehmende Politisierung der Energie-Angelegenheiten von Seiten Russlands anzuzeigen. Das Land verwendet seine Position als Energie-Supermacht, um politisch zu punkten, seinen Einfluss im Westen zu erhöhen und den Westen zu erpressen.

Dass die EU Russland braucht ist klar. Aber braucht Russland die EU? Es könnte sein Gas auch nach China liefern.

Das ist eine Möglichkeit, und es ist vor einigen Monaten sogar ein entsprechender Vertrag unterzeichnet worden. Aber Europa bleibt der Hauptmarkt. Europäische Partner sind ideal, um Investitionen und Know-How für die Renovierung und den Bau der notwendigen Energie-Infrastruktur zu garantieren. Also ist Russland auch von der EU abhängig. Aber kurzfristig fühlen sich die Russen in einer Position der Stärke. Wenn sie die Gaslieferungen stoppen, werden die Winter in Zentraleuropa sehr kalt.

Was kann die EU also in Lahti erreichen?

Das Abendessen wird interessant. Ich frage mich, ob die finnische Präsidentschaft einige koordinierte Botschaften der Staats- und Regierungschefs an Putin konzertiert hat, um zu verhindern, dass dieser Unstimmigkeiten ausnützen kann. Und natürlich wird Putin das versuchen, so weit er kann. Der Trick ist, ihm das nicht zu sehr zu erlauben.

Was würde passieren, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht geeint auftreten?

Sie werden sich bemühen, geeint aufzutreten. Meiner Meinung nach wird es eine Art Kernbotschaft geben, die bei allen gleich ist, aber Nuancen in der Präsentation.

Welche Nuancen meinen Sie?

Es gibt ja in der EU unterschiedliche Einstellungen gegenüber Russland. Speziell in Dänemark, Schweden, Polen und den baltischen Staaten ist die Kritik an Russland am größten. Im Gegensatz dazu sind Deutschland und Frankreich besonders freundlich zur gegenwärtigen russischen Führung. Auch London will Putin aus realpolitischen Gründen nicht verärgern. Hintergrund sind einige heiße Themen im UN-Sicherheitsrat, wo Russland ein Vetorecht hat.

Was muss die Kernbotschaft an Russland sein?

Wir sind sehr an einem guten Verhältnis in mehreren Bereichen interessiert. Der vielleicht wichtigste ist die Energiesicherheit. Wir diskutieren gemeinsam auch über den Kosovo, den Iran und vielleicht demnächst über Nordkorea. Aber um das zu erreichen, muss Russland ein verlässlicher Partner bei der Energieversorgung sein, die Stabilität an den Grenzen sowie Rechtsstaat lichkeit garantieren und im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den Menschenhandel überzeugen. Im Gegenzug können wir sehr gute Handelskondi tionen und Kooperation auf anderen Gebieten anbieten.