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Russland durch die Geheimdienstbrille betrachtet

Von David Ignatius

Gastkommentare
Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Persönliche Interessen, persönliche Abneigungen und der Faktor Putin: ein Blick auf die Russlandaffäre der USA aus Moskauer Sicht.


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In einem Kaffeehaus in der Nähe des alten KGB-Hauptquartiers in Moskau versuchte der Aufdeckerjournalist Andrej Soldatow, mir die undurchdringliche Welt des russischen Geheimdienstes zu erklären, die in den USA nach Hackerangriffen im Präsidentschaftswahlkampf 2016 Mittelpunkt einer Untersuchung ist. Große Ereignisse resultierten im heutigen Russland oft nicht aus groß angelegten Strategien, sagt Soldatow, sondern seien "taktische Schritte", die die persönlichen Interessen Wladimir Putin und seiner allmächtigen "präsidialen Regierung" widerspiegeln.

Der Faktor Putin, so Soldatow, sei zentral, will man die offenen Fragen rund um die Hacking-Untersuchung verstehen. Putin hat eine persönliche Abneigung gegen Hillary Clinton. Der russische Geheimdienst hat daher seit dem Spätsommer 2015 Informationen über sie gesammelt. Aber was die Aktion erst richtig beschleunigte, war wohl die Veröffentlichung der Panama-Papiere im April 2016, das Aufdecken der geheimen Bankkonten einiger von Putins engen Freunden und Mitarbeitern. "Das war ein persönlicher Angriff", sagt Soldatow: "Über Putins Familie und Freunde darf man nicht schreiben." Dagegen habe Putin etwas machen wollen, "um eine Lektion zu erteilen".

Putin kritisierte die Panama-Papiere als Angriff der USA, um ihn in eine peinliche Lage zu bringen. "US-Regierungsbeamte und Behörden stecken dahinter", sagte er im April 2016. Für Putin, den Ex-Geheimdienstoffizier, ist nichts, was mit Nachrichten zu tun hat, Zufall.

Beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg erteilte Putin vergangene Woche Megyn Kelly von NBC eine Abfuhr nach der anderen: "Was die unabhängigen Quellen betrifft - niemand ist unabhängig auf dieser Welt." Und als Kelly hartnäckig nach "digitalen Fingerabdrücken" beim Hacken des Democratic National Committees fragte, explodierte Putin: "Welche Fingerabdrücke? Hufabdrücke? Hornabdrücke?"

Kurz zuvor hatte Putin eingeräumt, dass "patriotisch gesinnte" private russische Hacker in die Angriffe verwickelt sein könnten. Gleich darauf begann er allerdings, alles abzustreiten, und deutete an, die CIA könnte hinter all dem stecken: "IP-Adressen kann man leicht anlegen. IT-Spezialisten können alles bewerkstelligen und die Schuld dann irgendjemandem geben." Laut Soldatow macht sich der russische Geheimdienst das Netzwerk privater Hacker zunutze, ähnlich wie US-Geheimdienste das tun.

Es wird noch viele Monate dauern, bis die Wahrheit über den Wahlkampf 2016 ans Licht kommt, umnebelt von Desinformationen - von Putin, Donald Trump und manch Medien. Aus russischer Sicht sind die Ansprüche der US-Medien auf Unabhängigkeit irreal. Ihre eigenen Propaganda-Medien sehen sie auf Augenhöhe mit den globalen Medienunternehmen.

Während die Hacking-Vorwürfe untersucht werden, sollten wir uns nicht täuschen lassen: Russland ist nicht dämonisch und allmächtig, sondern ein hoch entwickelter, zunehmend moderner Staat. Ein Staat, der von einem früheren Geheimdienstoffizier geleitet wird, der die Welt aus einem ganz bestimmten Blickwinkel wahrnimmt.

Übersetzung: Hilde Weiss