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Russland Grenzen setzen

Von Rinna Kullaa

Gastkommentare
Rinna Kullaa ist Professorin für globale Geschichte an der Universität Tampere in Finnland und hat russische Geschichte an der Universität Wien gelehrt. Buchtipp: "Non-Alignment and its History in Cold War Europe: Yugoslavia, Finland and the Soviet Challenge" (Bloomsbury 2020).
© privat

Finnland, die Nato und der übermächtige Nachbar im Osten.


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Die 1.340 Kilometer lange finnisch-russische Grenze könne im schlimmsten Fall einen Nuklearkrieg auslösen, meinte der Politologe Heinz Gärtner in seinem jüngsten Gastkommentar. Dem ist ganz allgemein zu entgegnen: Grenzen lösen keine Kriege aus, vor allem nicht, wenn sie durch praktisch menschenleeres Terrain verlaufen und unumstritten sind wie Finnlands Ostgrenze. Es sind Menschen, die das tun. Dennoch ist diese Ansicht weder neu noch einzigartig.

Bei einem Staatsbesuch in Washington 1989 wurde Finnlands Außenminister Pertti Paasio gefragt, ob es nicht die "Tragödie" seines Landes sei, im Osten eine so lange Grenze mit der Sowjetunion zu teilen. Seine Antwort: "Ich finde es ziemlich gut, dass dort die Grenze ist. Es wäre viel tragischer, wenn es keine Grenze gäbe." Paasios Argument war klar: Damit Finnland damals kein Teil der Sowjetunion und heute Russlands war und ist, musste eine Grenze gezogen werden. Die Finnen zogen und ziehen es vor, dass diese Grenze östlich von ihrem Staatsgebiet verläuft.

Pertti und sein Vater Rafael Paasio, Premier 1966 bis 1968, waren sozialdemokratische Gewerkschafter, die im finnischen Parlament und in der Parteiführung Karriere gemacht hatten. Rafael Paasio war international angesehen und in Schweden ebenso willkommen wie in Israel. Außenpolitik war und ist in Finnland keine Frage der Parteipolitik. Sie wurde und wird durch breiten und fundierten Konsens entschieden. Das Parlament debattiert und beschließt die Entwürfe der Regierung, die sie schließlich zusammen mit dem Präsidenten umsetzt. Die aktuelle Regierung ist sozialdemokratisch geführt, der Präsident kommt aus den Reihen der Konservativen.

Die finnische Herangehensweise an die Sowjetunion im Kalten Krieg wurde nicht 1947 definiert, wie Gärtner schreibt, sondern ein Jahr später, als Urho Kekkonen und Juho Kusti Paasikivi versuchten, einen Vertrag wie jenen zwischen der UdSSR und der Tschechoslowakei zu vermeiden. Der österreichische Staatsvertrag war keine große Inspiration für die finnische Außenpolitik des Neutralismus, ein sorgfältig ausgehandeltes Abkommen mit der UdSSR auf der Grundlage von Geopolitik und Handel. Eher war Finnland ein Vorbild für Österreich.

Ein wehrhafter Staat

Im Zentrum des finnischen Ansatzes standen die politische und die Meinungsfreiheit. Im Gegenzug verpflichtete sich Finnland, die Sowjetunion nicht anzugreifen und keinen Angriff auf sie zuzulassen. Finnland zahlte seine Kriegsschulden gegenüber der UdSSR vollständig ab und machte den Handel mit der Sowjetunion zum Teil des Nachkriegskonzeptes. So erlangte es auf seinem gesamten Territorium, einschließlich des Saimaa-Kanals, seine Unabhängigkeit zurück. Einen Teil der finnischen Sicherheit gewährleisteten die westlichen Nachbarn: Norwegen in der Nato, Schweden außerhalb. Dabei verstanden alle Beteiligten, auch die Supermächte, dass Schweden im Falle von sowjetischem Druck auf Finnland der Nato beitreten würde.

Finnlands Sicherheitskonzept beinhaltet eine allgemeine Wehrpflicht von einem Jahr für jeden Mann und die Frauen, die dazu bereit sind. Als viele andere europäische Länder nach dem Ende der UdSSR ihre Militärbudgets kürzten, behielt Finnland seines bei. Der Eckpfeiler der Verteidigung waren und sind ausgebildete Reservisten, von denen es heute insgesamt 870.000 gibt. Die Bereitschaft der Bevölkerung, das Territorium zu verteidigen, ist auch nach 1991 hoch geblieben.

Seit der Jahrtausendwende hat sich Finnland weiter an einen umfassenden Sicherheitsansatz angepasst. Neben der traditionellen Wehrpflicht bestehen gesellschaftliche, wirtschaftliche, gesundheitliche und ökologische Dimensionen der Sicherheitsplanung. Dazu gehört ein hohes Maß an umfassender Bildung der Bevölkerung, das die Widerstandsfähigkeit gegenüber Propaganda und Influencer-Kampagnen aus dem Ausland erhöhen soll. In den vergangenen 20 Jahren wurde die militärische Kooperation mit der Nato, aber auch mit Schweden verstärkt. Die Länder teilen eine gemeinsame Grenze, sind Mitglieder der EU und des Nordischen Rates. In Finnland ist Schwedisch die zweite Amtssprache.

Enge Kontakte zu Schweden

Mit der Erwägung eines Nato-Beitritts lässt Finnland weder Schweden noch seine eigene Geschichte hinter sich. Die Kontakte zu Schweden sind heute häufiger und enger als je zuvor. In diesem entscheidenden Moment haben beide Länder sozialdemokratische Regierungschefinnen. Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine war eine Nato-Mitgliedschaft kein brennendes Thema. Finnland war aber vorbereitet: So wurde unter anderem im Dezember der Neukauf von 64 F-35-Jagdflugzeugen abgeschlossen. Die Invasion und der blutige Krieg gegen zivile Ziele machen es nun dringend erforderlich, sich noch mehr auf die Verteidigung zu konzentrieren. Drei anderen Mitgliedern des Nordischen Rates - Dänemark, Norwegen und Island - ist die Nato nicht fremd. Finnland und Schweden sind ebenfalls seit 1952 Teil dieser Gruppe. Es wäre seltsam, würden sie nicht auch von dieser Seite ihrer gemeinsamen Geschichte beeinflusst.

Das impliziert aber keine Atomwaffen für Dänemark oder Norwegen. Einige politische Kommentatoren, darunter Jean-Marie Guehenno, haben jüngst die verbreitete Meinung kritisiert, Atomwaffenstaaten dürften in einem von ihnen provozierten Konflikt "nicht in die Ecke gedrängt werden". Guehenno, lange Zeit stellvertretender UN-Generalsekretär für Friedenssicherung, argumentierte, Russland müsse heute gestoppt werden. Andernfalls werde es in einigen Jahren erneut versuchen, seine Grenzen weiter nach Westen zu verschieben. Eine verantwortungsbewusste Regierung muss eine solche Bedrohung ihrer eigenen Existenz und Europas erkennen. Das verstehen auch die Einwohner St. Petersburgs, Russlands zweitgrößter Stadt, nur 120 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt, wie TV-Interviews vorige Woche zeigten.

Auf dem Grabstein von Paasikivi, dem Architekten der finnischen Außenpolitik des Neutralismus, steht: "Der Anfang aller Weisheit ist das Eingeständnis der Tatsachen." Russland als Nachbar ist eine dauerhafte Tatsache. Aber Finnlands Präsident will nicht erleben, dass Russland die Grenze überschreitet. Es gibt eine überwältigende Mehrheit für einen Nato-Beitritt. Aber es gab und gibt keine Debatte über Atomwaffen für Finnland. Es wäre falsch und eine Umkehrung von Ursache und Wirkung, Russlands Drohungen mit Atomwaffen als Folge der finnischen Außenpolitik zu sehen. Sie sind es nicht.