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Russland: Großmacht auf tönernen Füßen

Von Andrea Riemer

Politik

Die 90er Jahre waren für Russland ein schwieriges Jahrzehnt. Boris Jelzin hat das Land zwar demokratisiert, zugleich aber auch auf der weltpolitischen Bühne marginalisiert. Mit der Amtsübernahme von Wladimir Putin im Jahr 2000 hat Russland jedoch seine Randlage Europas verlassen und wurde wieder zum akzeptierten und beachteten Akteur auf der internationalen Bühne. Am Anspruch, eine Großmacht von weltpolitischer Bedeutung zu sein, hat sich während all dieser Zeit nie etwas geändert. Nur mit der Realität kann dieses Ansinnen nicht immer mithalten.


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Der Großmacht-Anspruch Russlands stützt sich auf zwei Fakten: Die schiere Größe des eurasischen Imperiums und sein ungeheurer Reichtum an Rohstoffen. Bei beiden stellt sich jedoch die Frage, ob nicht beide Faktoren zugleich auch Schwachpunkte und Russland eine 'Großmacht auf tönernen Beinen' ist. Die von vielen Beobachtern immer wieder konstatierten Anzeichen für eine langfristige Erholung müssen daher mit vielen Fragezeichen versehen werden.

Die unsichere wirtschaftliche Entwicklung, die - budgetäre, moralische und personelle - Aushöhlung der Streitkräfte und die alarmierende Bevölkerungsentwicklung (Stichwort Überalterung und aufgrund eines grassierenden Alkoholismus hohe Sterblichkeitsraten) bilden ein Dreieck, das Russland mittelfristig zu einem schwachen Spieler werden lassen könnte. Und es ist diese Schwäche, so die Sicherheitsberaterin von US-Präsident George W. Bush, Condoleeza Rice, aus der die größte Gefahr von und für Russland ausgeht. Diese Dreieckskombination wird Russlands innere Entwicklung ebenso nachhaltig beeinflussen wie seine internationale Position und seine globalen Einflussmöglichkeiten.

Wichtiger Alliierter im Kampf gegen den Terror

Russland hat sich nicht ohne eigennützige Hintergedanken bedingungslos hinter die USA und ihren "Krieg gegen den Terror" nach den Anschläge von 9/11 gestellt. Dabei trifft es ich gut, dass Moskau keinerlei Verpflichtungen eingehen musste und dennoch massiv vom Westen umworben wurde. So war dieser etwa bereit, über die engen russischen Verbindungen zum Irak und Iran, die selbst immer wieder als Grundlage der Förderung von terroristischen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden, großzügig hinwegzusehen. Vielleicht auch deshalb, weil der Westen in diesem Punkt selbst nicht gerade über die weißeste Weste verfügt.

In der außenpolitischen Praxis Moskaus lassen sich - entgegen einer im Westen wie in Russland weit verbreiteten Meinung - kaum konkrete Beweise einer "prowestlichen Wende" vorlegen. Einzige Ausnahme: Das Russische Engagement im "Krieg gegen den Terror".

Die Militärintervention in Tschetschenien ist aus Sicht Russlands "sein Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Experten hingegen beurteilen das rigorose und brutale Vorgehen in der abtrünnigen Kaukasus-Republik als "Vernichtungskrieg" gegen die Tschetschenen. Manche Beobachter wie etwa der kürzlich in Wien weilende ehemalige Gorbatschow-Berater Alexander Yakovlev sind deshalb sogar der Überzeugung, dass nicht der Terrorismus Russland, sondern das Land sich selbst den Krieg erklärt habe.

Auf Georgien übt Moskau massiven Druck aus, da es davon ausgeht, dass von georgischem Territorium "tschetschenische Terroristen" ihre Operationen starten. So liegt über dem russischen Beitrag zur Terrorbekämpfung ein dunkler Schatten, der im Westen gerne übersehen wird. Tschetschenien findet in europäischen Medien kaum Beachtung. Manche Experten meinen, es wird bewusst verschwiegen, um Russland nicht zu verstimmen.

Die bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und Washington erfuhren unter Putin und Bush eine bemerkenswerte Entwicklung. Die USA stiegen aus dem ABM-Vertrag (anti ballistic missile treaty, dieser verbietet den Aufbau einer nationalen Raketenabwehr) aus; mit Litauen, Estland und Lettland wurden drei Staaten NATO-Mitglieder, die einst zur UdSSR gehörten; Washington ging mit Georgien, ebenfalls eine Ex-UdSSR-Republik, ein sicherheitspolitisches Hilfsprogramm ein - und überschritt damit eine klassische "rote Linie", die den russischen Einflussbereich aus Sicht Moskaus markiert. In dieses Bild westlicher Expansionsbestrebungen passt auch die seit Frühherbst 2001 etablierte US-Militärpräsenz im einst sowjetischen mittelasiatischen Raum.

Alleine diese Aktivitäten hätten noch vor wenigen Jahren unweigerlich zu enormen Spannungen geführt. Doch von einer nachhaltigen Verstimmung in den russisch-amerikanischen Beziehungen ist nichts zu erkennen. Man hat eben heute mehr Verständnis für die Nöte und Interessen des jeweils anderen. So ist auch die bemerkenswerte Zurückhaltung Washingtons zu interpretieren, wenn es um problematische innenpolitische Entwicklungen geht - Stichwort Yukos-Affäre oder die von Putin betriebene Abschaffung der Gouverneurswahlen.

Heute bezeichnet man das von westlicher Seite als "außenpolitischen Pragmatismus" und begründet diesen mit der notwendigen Rücksichtnahme auf das "große russische Selbstwertgefühl". Sicher ist jedoch auch, dass sich Russland eine handfeste Konfrontation auf militärischer Ebene mit den USA nicht leisten kann und die USA eine solche nicht will.

Russlands andauernde und schwierige Suche nach seiner postkommunistischen Identität ist nicht nur ein Kampf zwischen alten Denkweisen und westlichen Anreizen. Es ist auch eine Suche Russlands nach sich selbst. Wie Russland mittelfristig unter den sehr einschränkenden Bedingungen umgehen wird, bleibt abzuwarten. Zur Zeit ist es ein Gigant auf tönernen Füssen. Eine gefährliche Konstellation - nicht nur für die USA.