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"Russland hat seine Position gestärkt"

Von Gerhard Lechner

Politik

Historiker Philipp Ammon über Machtverschiebungen im Südkaukasus nach dem Krieg.


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"Wiener Zeitung": Am 9. November 2020 wurde zwischen Armenien und Aserbaidschan unter russischer Vermittlung jenes Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das die Neuauflage des Krieges um Bergkarabach beendete. Im Gegensatz zu den Kämpfen in den 1990er Jahren ging diesmal - mithilfe türkischer Drohnen - Aserbaidschan als Sieger aus dem Konflikt hervor. Ist die Lage heute, ein Jahr später, stabil? Oder können jederzeit wieder Kämpfe ausbrechen?

Philipp Ammon: Theoretisch ist es natürlich möglich, dass wieder Kämpfe ausbrechen. Dennoch scheint im Moment nicht allzu viel dafür zu sprechen. Das hat vor allem einen Grund: Russland hat durch den Waffenstillstand seine Position im Kaukasus gestärkt. Moskau kontrolliert heute den Südosten des Kaukasus und ist natürlich interessiert, diese Kontrollposition zu behalten. Die jetzige Lage in Bergkarabach ist für Russland sehr günstig: Man hat im Vorjahr Aserbaidschan so weit vormarschieren lassen, dass die dortige Bevölkerung das als Erfolg verbuchen und die russische Unterstützung der Armenier im ersten Karabachkrieg vergessen konnte. Gleichzeitig hat Armenien doch so viel von Bergkarabach behalten können, dass es weiter auf russische Unterstützung angewiesen ist.

Russland galt freilich auch immer als Schutzmacht Armeniens. Hat es nicht seinen Verbündeten, immerhin Mitglied in einem russischen Militärbündnis, in der Not im Stich gelassen? Ist das nicht auch ein Imageschaden für den Kreml gewesen?

Nicht unbedingt. Denn aus russischer Sicht hat Premierminister Nikol Paschinjan, der Anführer der samtenen Revolution 2018, diesen Schutzvertrag Armeniens mit Russland zuvor schon so gut wie aufgekündigt. Er hatte sich aus der russischen Einflusssphäre gelöst und dem Westen zugewandt. Moskau war damit zur Überzeugung gelangt, dass kein Grund mehr besteht, eine Garantie für die Grenzen Bergkarabachs zu übernehmen.

Ging Paschinjan wirklich so weit, dass er sich von Moskau löste?

Natürlich wurde das Bündnis nicht gekündigt, das ist klar. Aber es gab atmosphärische Verschiebungen. Antirussische Töne wurden in Armenien lauter, auf Demonstrationen wurden russische Fahnen verbrannt. Aus dem Paket an Fernsehsendern wurden die russischen gestrichen. Viele prorussische Politiker wurden der Korruption beschuldigt. All das wurde im Kreml genau registriert. Was dann noch dazu kam, war, dass sich Paschinjan oft erratisch verhalten hat. Zunächst zeigte er sich in Richtung Aserbaidschan versöhnungsbereit, später verschärfte er unter innenpolitischem Druck seine Rhetorik wieder. Dadurch wurde auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der als Vermittler tätig war, vor den Kopf gestoßen. Die Entfremdung war so groß, dass russische Politologen in aserbaidschanischen TV-Talkshows auf die Frage, ob Russland Armenien bei der Verteidigung Bergkarabachs zur Seite stehen würde, sagten, das sei wohl nicht mehr der Fall.

Russland hat also Armenien bestraft, weil es sich dem Westen zugewandt hat?

Moskaus Botschaft an Jerewan lautete sinngemäß: Wenn ihr glaubt, dass ihr unseren Schutz, unsere Lebensversicherung nicht mehr braucht, dann seht selbst, wie ihr ohne diesen Schutz auskommt.

Einmal abgesehen davon, dass Russland profitiert hat - was sind die Ergebnisse dieses Krieges?

Der Krieg hat in der Tat das gesamte Gefüge im Kaukasus verändert. Die Türkei hat über einen Korridor eine Landverbindung zu Aserbaidschan bekommen. Damit ist nun aber nicht nur Armenien geschwächt, sondern auch Georgien. Denn dieses prowestliche Land, das in den Bergkarabachkonflikt ja nicht involviert ist, bildete bisher die Landbrücke zwischen Aserbaidschan und der Türkei - was Tiflis natürlich genützt hat. Jetzt ist dieses Gewicht verloren gegangen, und den neu geschaffenen Korridor zwischen der Türkei und Aserbaidschan kontrolliert ausgerechnet Russland. Ergebnis dieses Krieges war natürlich auch, dass Aserbaidschan mit seinen Drohnenangriffen den Armeniern, die sich dem Nachbarn technologisch und wirtschaftlich überlegen fühlten, eine kalte Dusche verpasst hat.

Apropos Drohnen: Im vergangenen Jahr haben sich ja unter anderem auch Polen und die Ukraine türkische Drohnen zugelegt, Letztere hat die Waffen im Donbass auch schon eingesetzt. Was bedeutet das für das russisch-türkische Verhältnis? Und wird der Bergkarabach-Krieg als erster Roboterkrieg in die Geschichte eingehen?

Tatsächlich wird dieser Krieg von Militärexperten bereits als erster Drohnen- oder Roboterkrieg der Geschichte bezeichnet. Zum ersten Mal kam unbemannte Militärtechnik in großem Stil zum Einsatz. Dass die Türkei Drohnen an die Ukraine verkauft, ist natürlich auch ein Signal in Richtung Kreml: Wir sind eigenständig, wir sind nicht in eurer Einflusssphäre. Man darf schließlich nicht vergessen, dass es trotz gewisser gemeinsamer Interessen auch genug Gegensätze zwischen Moskau und Ankara gibt, etwa in Libyen, Syrien oder was die Krimtartaren betrifft.

Armenien hat auf den Westen gesetzt und verloren. Wie stark ist der Westen im Südkaukasus eigentlich vertreten? Spielt er noch eine Rolle?

Der Westen ist in Form von Stiftungen vertreten, es gibt viel Unterstützung über Reformprogramme, etwa im Bildungswesen oder der Wirtschaft. Militärischen Schutz kann der Westen den Staaten im Südkaukasus aber keinen bieten.

Auch Georgien nicht, das sich ja sehr stark nach Westen orientiert und einen Nato-Beitritt anstrebt?

Selbst als in den USA mit dem Republikaner John McCain ein Mann großen Einfluss hatte, der für eine solche Politik offen war, war in den USA keine Bereitschaft da, in Georgien militärisch einzugreifen. Es gab zwar Ausbildungsprogramme, aber ein militärisches Engagement, das in einem tatsächlichen Schutz der Landesgrenzen münden würde, gab es nicht. Die USA konzentrieren sich zunehmend auf die Rivalität mit China. Und in Frankreich gibt es zwar eine starke armenische Diaspora und viele Sympathien für Armenien. Aber Frankreich hütet sich schon aus innenpolitischen Gründen, im Südkaukasus als Konfliktmacht aufzutreten. Im Vorjahr hat es bereits Ausschreitungen von Muslimen gegeben, die Frankreich beschuldigten, auf armenischer Seite zu stehen.

Georgien und Armenien, zwei christliche Kaukasusstaaten, haben ja ein sehr unterschiedliches Verhältnis zu Russland. Für Armenien ist Moskau Schutzmacht, für Georgien Gegner. Warum eigentlich?

In Armenien ist die Bindung an Russland in der Tat stärker. Man betrachtete die Russen stets als Lebensversicherung gegen Aserbaidschan und die Türken. Außerdem hat in Armenien zur Zeit des Zarenreiches die Russifizierung der Kirche später eingesetzt als im ebenfalls zu Russland gehörigen Georgien, wo die Selbständigkeit des Klerus deutlich früher beschnitten wurde.

. . . was in Georgien den Widerstand angefacht hat?

Ja, diese Politik hat Georgien, das lange Zeit ja auch auf russischen Schutz setzte, sehr stark entfremdet vom Zarenreich. Dazu kommt, dass Armenien seine Staatlichkeit schon viel früher verloren hat als Georgien, nämlich bereits im fünften Jahrhundert. Die Erinnerung an und der Wunsch nach einem eigenen Staat war also nicht so stark. Während
Georgien immer noch den Anspruch auf Selbständigkeit hatte, hat man sich in Armenien, das über eine viel stärkere Diaspora verfügte, damit begnügt, dass das Imperium die Handelswege schützt. Georgien hatte, kann man so sagen, den Wunsch, Bundesgenosse Russlands zu werden, während Armenien damit einverstanden war, sich von den Russen schützen zu lassen. Sie waren eher bereit, sich ins russische Imperium einzufügen.

In Ihrem Buch über das georgisch-russische Verhältnis beschreiben sie den Gegensatz zwischen der vergleichsweisen modernen russischen Bürokratie und den vormodernen Traditionen der Georgier, wo es statt eines aufgeklärten Staates feudale Personenabhängigkeitsverhältnisse gab. Ist davon heute noch etwas übrig im Südkaukasus?

Ja. Die Loyalität der Menschen gilt oft eher den Leuten, die man kennt, als den Institutionen des Staates. Auch die politischen Parteien sind eher Verbindungen von Personen als ideologische Gruppierungen. Ein Problem ist, dass man auch auf dem Feld der Außenpolitik in diesen Kategorien denkt. Dass Georgiens Ex-Präsident Micheil Saakaschwili 2008 beim Krieg um Südossetien auf Schutz durch die Amerikaner setzte, weil er sich mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush gut verstand, ist nicht untypisch für ein Denken, das im Kaukasus vorherrscht: Im Georgischen gibt es einen eigenen Begriff dafür, ein Höriger eines Patrons zu sein. Das gilt nicht als Knechtschaft, sondern als ein wohlwollendes Verhältnis, von dem der, der hörig ist, sehr stark profitiert. Dieser Begriff ist also nicht negativ besetzt, man ist stolz, dazuzugehören. Es gibt auch Verwünschungen, wo nicht der entsprechende Mensch verwünscht wird, sondern sein Patron.

Diese Struktur begünstigt wohl auch Korruption, oder?

Ja. Die Korruption wird beklagt, gleichzeitig wird jemandem, der Bekannten nicht ausreichend "hilft", wieder vorgeworfen, illoyal zu sein. Da ist es natürlich schwer, diese Strukturen zu überwinden - zumal sie ja auch sinnvoll sind: Diese persönlichen Netzwerke bieten immerhin eine Sicherheit, die der Staat nicht bieten kann.