Die russische Politologin Ekaterina Schulmann über die Wirtschaftskrise und die kommenden Parlamentswahlen.
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"Wiener Zeitung": Die wirtschaftliche Stimmung in Russland ist schon länger miserabel. In den vergangenen Tagen aber scheint sie in Panik überzugehen, angetrieben von Rekordtiefs des Rubels und dem anhaltenden Ölpreisverfall. Das geht so weit, dass sich bereits Experten finden, die Russland ein Ende in 18 Monaten voraussagen.
Ekaterina Schulmann: Nun, Katastrophenszenarien entsprechen selten der Realität. In der Tat wird heute viel darüber diskutiert, wann die Reserven Russlands zu Ende gehen. Die Zentralbank gibt derzeit nicht sehr viel ihrer Reserven aus, um den Rubel zu stützen - womit sich auch dessen Fall miterklärt. Ein gewisser Rubelverfall ist darüber hinaus dem Staatsbudget zuträglich, da es die Sozialausgaben billiger macht. Insgesamt aber sind die Reserven immer noch beträchtlich. Aus menschlicher Sicht freilich wird durch die Nicht-Stützung des Rubels die Krise auf den Konsumenten abgewälzt, denn Inflation ist eine Steuer der Armen. Aber aus Sicht der Systemstabilität ist dies rational. Die russische Wirtschaft ist - abgesehen davon, dass die Rolle des Staates übertrieben ist - eine Marktwirtschaft, eine kapitalistische Wirtschaft. Und als solche ist sie, im Gegensatz zur sowjetischen, ausreichend flexibel und dazu fähig, sich anzupassen. Gleichzeitig federt die Schattenwirtschaft die Krise ab, weil Menschen beschäftigt werden und sie so ein Einkommen haben. Auch die Mobilität der Arbeitskräfte ist nach wie vor nicht sehr hoch, aber höher als noch zu Sowjetzeiten.
Gleichzeitig beobachten wir zunehmende Armut, eine Verkleinerung der Mittelschicht, ein Ende des Wirtschaftswachstums und eine Stagnation, die ein Jahrzehnt andauern kann. Das ist eine traurige Aussicht, und sie ist realistisch. Aber es ist kein Katastrophenszenario.
Ist die heutige Unruhe in Russland alleine auf die wirtschaftliche Misere zurückzuführen?
Die aktuelle Beunruhigung und Gereiztheit im Land, denn von Panik kann man nicht sprechen, kommt auch von einem gewissen Hangover nach der Euphorie des Jahres 2014, des "Krim-Frühlings". Zu der Zeit war man völlig euphorisch darüber, dass man plötzlich - ohne Kosten und ohne Blut - zu so einem Geschenk kam. Damals gab es noch keine Wirtschaftskrise, der Rubel war noch teuer. Dann aber, bereits im Herbst des gleichen Jahres, begann eine gewisse Unruhe wegen des Konflikts in der Ukraine. Es gibt so eine banale, infantile Eigenschaft des russischen Massenbewusstseins: Wir wollen Siege, außenpolitische Größe, uns freut das außerordentlich, aber wir wollen das umsonst und ohne Opfer. Sobald es Opfer gibt, verfallen die Menschen in große Unruhe. Diesen wunden Punkt kennt die politische Führung nur zu genau. Ich glaube, dass er einer der Hauptgründe dafür war, dass unsere Aktivität an der ostukrainischen Front zum Stillstand kamen.
Seit 2012 werden immer mehr Entscheidungen im Kreml direkt gefällt. Wichtige Behörden, etwa das Oberste Ermittlungskomitee, wurden dort angesiedelt. Berater des Präsidenten übernahmen strategische Planungsaufgaben. So erhält man den Eindruck, Präsident Wladimir Putin trifft alle Entscheidungen in dem Riesenreich.
Ich stimme dem nicht zu. Mir scheint, dieses Bild wird oft auch absichtlich verkauft. Sehen wir uns die bloßen Zahlen an: Seit 2012 sinkt die Zahl der von ihm unterzeichneten Erlässe, genauso wie die Anzahl seiner offiziellen Treffen. Die Präsidialadministration verfügt über keine neuen Kompetenzen. Die Präsidentenberater sind hauptsächlich mit öffentlicher Rhetorik beschäftigt, wie stark ihre realen Befugnisse sind, ist schwer nachzuvollziehen. Freilich läuft in Russland viel über informelle Kanäle.
Russland ist ein sehr bürokratisiertes und überreguliertes Land. Das erfordert eine ungeheuerliche Anzahl von Entscheidungen des Staates. Aufgrund der hohen Anzahl wird schon klar, dass diese nicht von einem und auch nicht von fünf Menschen getroffen werden können. Die Führung Russlands und die Aufrechterhaltung der Stabilität sind aufgeteilt auf tausende Bürokraten. Üblicherweise wird gesagt, dass die Regierung eine technische Rolle spielt und die wichtigen Entscheidungen im Kreml getroffen werden. Gleichzeitig hört man ständig, dass der Präsident in den vergangenen Jahren sein Interesse an der Innenpolitik verloren hat und sich nur mehr der Geopolitik widmet. Insgesamt würde ich sagen, dass Russland von einer kollektiven Bürokratie geführt wird, die auf verschiedene Organe aufgeteilt sind. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Präsidialadministration das einzige Zentrum der Stärke ist, das Anweisungen an alle sendet. Vielmehr scheint es mir umgekehrt: Es gibt viel mehr Autonomie in den verschiedenen Behörden und Zentren der Macht, als vordergründig verkauft wird. Es ist eine sehr übliche Beschwerde in der russischen Bürokratie, dass es unmöglich ist, mit seinen Angelegenheiten zum Präsidenten vorzudringen. In der Praxis heißt das natürlich nicht, dass ganz Russland im Vorzimmer Putins sitzt und auf ihn wartet. Es heißt vielmehr, dass die Bürokratie die Entscheidungen selbst trifft.
Vom Kreml erwartet man keine Instruktionen, sondern Signale, welche politischen Tendenzen es gibt. Es ist eher eine Verbreitung von Gedanken und symbolischen Botschaften, als direkte Anordnungen. Jeder versucht, den Trend zu erraten. Jeder hat Angst, sich dabei zu verlaufen. Ein guter Bürokrat ist jener, der gut raten kann.
Das heißt, Russland funktioniert auch ohne Präsident Putin?
Das ist eine kühne These, aber in den vergangenen Jahren gab es Zeiten, in denen er vom öffentlichen Radar verschwand. 2013 war es fast ein Monat, unlängst etwas über zehn Tage. Das ruft immer große Aufregung hervor, aber es kam zu keiner Katastrophe. Unser System ist beständiger, als üblicherweise angenommen wird. Die große Anzahl an Bürokraten ist einerseits eine Belastung, weil teuer, andererseits ein Vorzug, denn sie ist ein Stabilitätsfaktor.
Im September stehen Parlamentswahlen an. Wer kann von der Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage profitieren?
Die Wahlen erfolgen nach neuen Gesetzen, die den jetzigen Urnengang freier und liberaler machen als die vergangenen zwei. In die Duma werden die Einzelmandatare zurückkehren, Parteien kommen ab fünf statt sieben Prozent ins Parlament einziehen und die Registrierung von Parteien wurde etwas erleichtert. Gleichzeitig gibt es im gültigen Wahlrecht weiterhin eine Menge an Filtern und speziell angelegten Verboten, die verhindern, dass die Wahlen völlig frei sind.
Man weiß, dass die Präsidenten-Partei "Einheitliches Russland", die die Mehrheit im Parlament hat, an Popularität verliert. Ziel ist es für sie, so gut wie möglich, die jetzige Zusammensetzung der Duma zu erhalten. Sie werden versuchen, dies mithilfe von Einzelmandataren zu erreichen, die, sobald die Wahlen geschlagen sind, mit der Pro-Präsidenten-Mehrheit stimmen werden. Es ist aber unklar, ob sich diese Einzelmandatare dann wirklich so verhalten werden, wie zuvor abgemacht, denn es gibt geringere Möglichkeiten an Druck auf sie als auf Abgeordnete, die der Partei angehören.
Von der Wirtschaftskrise werden am ehesten die linken Parteien profitieren. Die jetzige Unzufriedenheit hat einen wirtschaftlich-sozialen Charakter, und traditionell wird in Russland so eine Art an Unzufriedenheit in einen Diskurs des gekränkten Paternalismus transformiert, also: "Du, Staat hast uns beleidigt, hast nicht genug gegeben, uns etwas weggenommen" - kurzum, uns Schlechtes getan. Das ist es eher eine Angelegenheit für die Linke als für die Rechte.
Ekaterina Schulmann: Die Politologin und Lektorin an der Russian Presidential Academy of National Economy and Public Administration ist zuzeit Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.