Politologin Chruschtschowa berichtet von ihrer Heimat und einer Situation, die auch für Putin ohne Ausweg ist.
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Die Urenkelin des legendären Sowjet-Führers Nikita Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, machte gleich zu Beginn klar, auf welcher Seite sie steht: Die Schwierigkeiten der russischen Gesellschaft könnten nicht mit dem verglichen werden, was die Ukraine derzeit durchmachen müsse, so die Politologin, die Wladimir Putins Angriffskrieg entschieden verurteilt.
"Russia - a Society in Meltdown" war das Thema einer Veranstaltung des Bruno Kreisky Forums, die am Mittwoch über die Bühne ging. Geladen waren Chruschtschowa, die Internationale Politik in New York lehrt, und der Historiker Philipp Blom. Beide bestritten den Abend im Angewandte Interdisciplinary Lab, der ehemaligen Postsparkasse im ersten Bezirk.
Chruschtschowa hat einen Teil des vergangenen Jahres in Moskau verbracht, sie konnte genau beobachten, wie sich Russland innerhalb kurzer Zeit verändert hat. Noch "30 Minuten vor dem Angriff" auf die Ukraine sei sie jedenfalls überzeugt gewesen, dass so etwas nicht passieren könne. Die Invasion habe sich gegen jedes einzelne nationale Interesse Russlands gerichtet. Alles, was Präsident Putin bis dahin politisch getan habe, sei ihr immerhin noch wie das Vorgehen eines Spielers erschienen, erzählt die Expertin.
Verzweiflung und Wut
Sie sei nach einem halben Jahr Lehrtätigkeit in den USA zurück nach Russland gereist, weil sie die veränderte Lage dort mit eigenen Augen sehen wollte. Ihre Erwartung sei es gewesen, "das Ende einer russischen Geschichte", wie es sie seit mehr als 30 Jahren gegeben habe, nachdem Michail Gorbatschow ein freies Land proklamiert hatte, mitzuerleben. Sie wollte sehen, wie alle Errungenschaften wieder zunichtegemacht werden. Sie sei in Erwartung einer Art "Weltuntergangs" mit dem Bus von Helsinki nach St. Petersbug gefahren.
Doch zunächst habe es den Anschein gehabt, als sei nichts geschehen. Es sei bei ihr der Eindruck entstanden, als würden die Menschen nicht begreifen, was gerade vorgehe. Doch bald stellte Chruschtschowa fest, dass sich die Gespräche der Russen stets um den Krieg drehten. Am 21. September, als Putin die Teilmobilmachung verkündete, sei die Lage eskaliert. In dem Haus, in dem sie in Moskau gewohnt habe, habe man einander gewarnt: "Die Bastarde sind im 7. Stock, jetzt sind sie im 8. Stock (. . .) Öffnet nicht die Türe." Es ging dabei um die Rekrutierer, die Männer für den Fronteinsatz sammeln wollten. Doch die Menschen hätten einander gegen die Obrigkeit geholfen. Auch seien die Rekrutierer angebrüllt worden: "Was macht ihr da? Wer braucht diesen Krieg? Das ist doch absurd! Was haben euch die Ukrainer getan?" Allein 700.000 Russen hätten sich dann auf den Weg nach Kasachstan gemacht, um zu entkommen. Sie habe eine Gesellschaft erlebt, die völlig verzweifelt ist, so Chruschtschowa. Man habe versucht, zu erfassen, was da gerade mit einem geschieht.
Stellt sich die Frage, wie die Menschen mit den radikalen Veränderungen umgehen. Wie groß ist die Empathie mit der Ukraine, die Gleichgültigkeit, die Unterstützung?
Sie habe die offiziell behauptete überwältigende Unterstützung für den Krieg nicht wahrgenommen, berichtet Chruschtschowa. Vor dem Angriff habe es noch Restbestände an freier Meinungsäußerung in Russland gegeben. "Nach dem 24. Februar hat sich alles in eine Diktatur verwandelt." Die Menschen wären wie mit einer Zwangsjacke gefesselt, eingeschüchtert und könnten sich nicht mehr bewegen. In den städtischen Regionen von Moskau und St. Petersburg seien viele verzweifelt, der Verkauf von Antidepressive wäre um 50 Prozent in die Höhe geschnellt. George Orwells Werk "1984" sei derzeit eines der meistverkauften Bücher im Land.
Zum ewigen Krieg verdammt
Wie aber ist es möglich, dass so viele Russen der staatlichen Propaganda auf den Leim gehen - etwa der, dass die Ukraine von Nazis regiert wird? Hier wirke, dass die gleiche Geschichte von den Staatsmedien immer wieder wiederholt werde, so die Politologin. Auch seien die Russen an "Doppelsprech" gewöhnt, sie würden eine Botschaft prinzipiell nie zu 100 Prozent glauben. Demnach glauben sie auch die Behauptung, die Ukrainer wären Nazis, nicht zur Gänze.
Allerdings gebe es in der russischen Gesellschaft immer schon Ressentiments gegen die Ukraine, was der Propaganda des Kreml entgegenkomme. Die Denkweise vieler Russen sei oft nicht logisch-stringent, sondern sprunghaft und irrational. Und so würden doch viele glauben, dass etwas an der Propaganda der Obrigkeit dran sein müsse. Russische Politik habe immer den Anspruch, etwas Grandioses zu sein, eine Kunst, und Russland betrachte sich als Großmacht, wie irrational das auch sei.
Aber wie sieht eine mögliche Zukunft für Russland aus? Die ukrainische Identität sei durch den Krieg massiv gestärkt worden, so Chruschtschowa. "Russland hingegen ist erledigt." Es sei kaum vorstellbar, dass das Land aus dieser Sache wieder herauskomme. Putin werde nicht aufgeben, weil er nicht genug gewonnen habe. Also werde er den Krieg fortsetzen. Der Krieg sei seine Identität, durch ihn werde er definiert. Ergo: "Putin ist so lange an der Macht, solange er diesen Krieg führt."