Der Ukraine-Krieg hat viele Facetten. Wir erleben in diesen Zeiten sowohl Glanz wie auch Elend des Pazifismus.
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Das Ur-Ethos aller Religionen und Weisheitslehren heißt: "Du sollst nicht töten." Das meint aber auch: "Du sollst nicht töten lassen", falls du das verhindern kannst. Deshalb wäre es 1994 in Ruanda notwendig und moralisch richtig gewesen, wenn die anwesenden UNO-Soldaten versucht hätten, den Massenmord zu verhindern, auch mit Waffen. In Ruanda schauten jedoch die Blauhelme dem Völkermord tatenlos zu, weil sie angewiesen waren, nicht einzugreifen.
Wer hat nun heute recht in Deutschland: diejenigen, die für Waffenlieferungen an die Ukraine sind, oder die, die dagegen sind? Ich weiß es nicht im Gegensatz zu Freizeitgenerälen in Redaktionsstuben und im Internet, die genau wissen, dass das ukrainische Militär keine Chance hat gegenüber der russischen Großmacht. Beide Seiten können schuldig werden. Jede Entscheidung hat ihre dunkle Seite. Jede Entscheidung fordert Menschenleben. Jede Entscheidung macht schuldig. Jedes Handeln birgt Risiken, aber jedes Nichthandeln auch.
Wir erleben in diesen Zeiten sowohl Glanz wie auch Elend des Pazifismus. Für die einen sind Pazifisten die Helden der Nationen, für die anderen die Narren der Nationen. "Schwerter zu Pflugscharen" ist das ein realistischer Wunsch oder, jetzt in Kriegszeiten, nur ein schöner, aber ferner Traum? Oder bei der Aggression Wladimir Putins gar Zynismus? Auch mit seinem Tötungsverbot nimmt uns Jesus nicht das eigene Denken, Urteilen und Entscheiden ab. Wir sollen selbst denkende Nachfolger sein, aber nicht gedankenlose Nachbeter.
Es fällt auch mir schwer, den Zorn auf Putin nicht in Hass umschlagen zu lassen. Aber wem würde das nützen? Hass entmenschlicht auch den Hasser. Heribert Prantl hat in dieser Situation in der "Süddeutschen Zeitung" vorgeschlagen, jetzt wenigstens den "kleinen Pazifismus" zu pflegen und die deutsch-russischen Städtepartnerschaften aufrecht- zuerhalten. Gute Idee!
Die Befürworter der Waffenlieferungen können nicht ausschließen, dass diese zur weiteren Eskalation beitragen. Und die Gegner können nicht ausschließen, dass sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Wir sind in dieser Frage gespalten. Wir sollten aber gerade jetzt aufeinander hören. Auch hier gilt: Dialog ist hilfreicher als gegenseitige Beschimpfungen.
Es gibt auch eine Kultur des Zweifelns und der Bedachtsamkeit. Ich bin froh, dass Deutschland jetzt einen Bundeskanzler hat, der zwar Waffen liefert, es aber nur zögerlich tut. Ich finde einen bei Waffenlieferungen zögernden Bundeskanzler hilfreicher als einen Scharfmacher. Zögern und Zaudern scheint mir in Kriegszeiten klüger als forsches Eskalieren. Umsicht, Wachsamkeit und vor allem vom Ende her Denken sind hauptsächlich in Kriegszeiten die wichtigsten politischen Tugenden.
Die Gemengelage in der Ukraine ist einfach zu komplex für schlichte Antworten. Deshalb sagt der Tübinger Friedensforscher, Professor Andreas Hasenclever: "Der Ukraine-Krieg wird noch fürchterlich lange gehen." Die Aussichten, ihn kurzfristig zu beenden und die Lage rasch zu befrieden, schätzt die Friedensforschung insgesamt düster ein.
Ausgang vieler Kriege bleibt oft lange Zeit ungeklärt
Kriege kennen vereinfacht gesagt zwei Ausgänge: ein Friedensabkommen oder einen militärischen Sieg. Der Ausgang vieler Kriege aber bleibt oft lange Zeit ungeklärt. Deshalb können sie wie der Dreißigjährige Krieg ewig lange dauern. Halb Europa wurde im 17. Jahrhundert ermordet. Zwischen Münster und Osnabrück konnten sich während des Dreißigjährigen Krieges Katholiken und Protestanten ein ganzes Jahr nicht auf ein Taufbecken einigen, und des- halb mussten noch einmal viele tausend Menschen sterben. Unfassbar für uns Heutige.
In den vergangenen Jahren hat sich die Friedens- und Konfliktforschung auf die Analyse von Bürgerkriegen spezialisiert. Nicht zuletzt deshalb wurden wir auch fast alle von einem klassischen Krieg in Europa im Jahr 2022 so überrascht. Auch ich. Wir hatten nicht mehr erwartet, dass einander in der Ukraine zwei Nationen bekämpfen würden. Doch in der Ostukraine herrschen bereits seit 2014 bürgerkriegsähnliche Zustände. Prorussische Separatisten und ukrainische Milizen bekämpfen einander schon seit Jahren losgelöst von regulären Streitkräften.
"Kriege enden dann, wenn sie zu teuer werden", sagt die Salzburger Kriegsforscherin Lena Oetzel der "Süddeutschen Zeitung". Beim Ukraine-Krieg tun beide Seiten so, als spiele Geld überhaupt keine Rolle. Solange beide glauben, auf dem Schlachtfeld mehr erreichen zu können als am Verhandlungstisch, wollen sie wei- terkämpfen. Noch ist keiner bereit, als Erster mit offenen Armen auf den anderen zuzugehen. In diesen Kriegstagen frage ich mich manchmal, warum denn keiner dieser russischen Kriegsherren auch nur ein einziges Mal darüber nachdenkt, was wirklich zählt im Leben. Dann wäre der Krieg rasch beendet.
Zweifel an Waffenlieferungen, Recht auf Selbstverteidigung
Papst Franziskus hat in diesen Monaten Zweifel an Waffenlieferungen von außen geäußert, aber zugleich das Recht auf Selbstverteidigung jedes Landes unterstrichen. Jeder wirkliche Pazifist und jede wirkliche Pazifistin muss sich allerdings fragen, wie sich in diesem Vernichtungskrieg Putins die Ukraine ohne Waffen verteidigen soll. Vielleicht brauchen wir jetzt einen Umweg. Kurzfristig "Frieden schaffen mit Waffen", um das langfristige Ziel "Frieden schaffen ohne Waffen" zu erreichen. Das wäre ein differenzierter Pazifismus, ich nenne ihn Realpazifismus. Fakt ist: Der heutige Herrscher in Moskau heißt Wladimir Putin und nicht mehr Michail Gorbatschow. Unser Problem ist: Es gibt heute weit und breit keinen Gorbatschow, und wenn es ihn gäbe, säße er im Gefängnis wie Alexej Nawalny.
Eines sollten wir uns aber auch immer wieder klarmachen, auf welcher Seite wir auch stehen: Betroffen sind immer zuerst die Menschen in der Ukraine. Ihre jungen Männer werden getötet, ihre Frauen werden vergewaltigt, ihre Kinder und ihre Alten werden zur Flucht gezwungen. Da verbietet sich Besserwisserei. Pazifismus kann also nicht heißen, dass wir vom sicheren hiesigen Boden aus den Ukrainern empfehlen könnten: Bitte ergebt euch! Das wäre ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Es wäre ein "Pazifismus", der dem Aggressor noch die Tür aufhält.
Was dabei oft vergessen wird: Schon die österreichische Ur-Pazifistin Bertha von Suttner hielt Verteidigungskriege für legitim. Und der bekannteste Pazifist Albert Einstein differenzierte zwischen "vernünftigem Pazifismus" und "verantwortungslosem Pazifismus". Der Bergprediger empfiehlt: Leistet keinen Widerstand! Die Frage aber bleibt: Wo ergibt Widerstand Sinn und wo nicht? Wo ist Widerstand das kleinere Übel? Ist die These "Je schneller die Ukraine Abwehrraketen erhält, desto rascher ist der Krieg zu Ende" wirklich abwegig? Ich erinnere mich an eine Situation in Israel, bei der die Lieferung deutscher Abwehrraketen dazu geführt hat, dass der palästinensische Raketenbeschuss aufgehört hat. Abwehrraketen aus Deutschland haben Leben gerettet.
Jeder Krieg kennt letztlich nur Verlierer
Für Pazifisten gilt wie für Journalisten: Unsere Fragen sind meist wichtiger als unsere Antworten. Es kann sein, dass es schlimmer ist, sich nicht mit Waffen zu verteidigen, als sich mit Waffen zu verteidigen. In Tibet empfiehlt der Dalai Lama Gewaltfreiheit und keinen militärischen Widerstand gegen das Riesenreich China. Er droht sogar mit Rücktritt von seinem geistlichen Amt, wenn die Tibeter einen militärischen Aufstand gegen China organisieren sollten. Militärischer Widerstand wäre hier nur sinnloses Töten. China ist militärisch den Tibetern natürlich eindeutig überlegen.
In der Ukraine haben wir eine völlig andere Situation. Wirklicher Pazifismus ist situationsbedingt und keine in alle Ewigkeit in Stein gemeißelte, festgeschriebene Ideologie. Es muss im Interesse aller friedliebenden Menschen liegen, dass der russische Angriffskrieg keinen Erfolg hat. Krieg ist das Allerschlimmste, was passieren kann. Deshalb wollen auch Soldaten in der Regel keinen Krieg. Wer aber die europäische Friedensordnung angreift und willkürlich Grenzen verschiebt, wer das Völkerrecht mit Füßen tritt, wer massive Kriegsverbrechen begeht, wer Millionen Menschen zur Flucht zwingt, wer Tausende tötet und wer Vergewaltigung als systematische Kriegswaffe benutzt wie Putins Soldaten, der sollte sich am Schluss nicht auch noch als Sieger fühlen. Das wäre für Putin, aber auch für andere Potentaten nur ansteckend.
Krieg ist das Ende aller Humanität. Jeder Krieg kennt letztlich nur Verlierer. Pazifisten ist klar: Nicht, wer Schlachten gewinnt, hat gesiegt, sondern der, der Frieden organisiert. Auf der ganzen Welt, auch in Russland, will die übergroße Mehrheit der Menschen keine Politik und auch keine Politiker mehr, die Kriege gewinnen wollen, sondern endlich eine Politik und Politiker, die Frieden gewinnen wollen. Russland ist nicht Putin-Land.
USA sollten ein Vorbild in Sachen Abrüstung sein
Mit mehr als 700 Milliarden Dollar pro Jahr fürs Militär sind die USA noch immer die stärkste Militärmacht der Welt. Deshalb sollten gerade sie jetzt mit ersten Abrüstungsschritten beginnen, um andere ebenfalls zur Abrüstung zu bewegen. Abrüstung gelingt, wenn der Stärkste damit beginnt. Nur weniger Waffen bringen auf Dauer mehr Sicherheit für alle.
Jesus hat in seiner Bergpredigt sogar Feindesliebe empfohlen. Ist das naiv? War Jesus ein Spinner? Auf jeden Fall ist seine Empfehlung erstmalig, einzigartig und außergewöhnlich. Feindesliebe heißt ja nicht: Lass dir alles bieten. Sondern: Sei klüger als dein Feind. Hab den Mut zum ersten Schritt. Die Bergpredigt Jesu, hat mir Gorbatschow einmal gesagt, "ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit".
Immerhin hat Helmut Kohl diesen Vorschlag gemacht: "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen." In seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1983 sagte er: "Frieden schaffen ohne Waffen, das ist ein verständlicher Wunsch, aber eine lebensgefährliche Illusion. Frieden schaffen nur durch Waffen: Das wäre eine tödliche Verblendung. Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit." Nur eine kleine Korrektur der Logik wegen: Immer weniger Waffen führt logischerweise zu null Waffen. Das muss unser langfristiges Ziel sein. Also abrüsten statt aufrüsten.
Gorbatschow wollte bei seinen Gesprächen mit US-Präsident Ronald Reagan 1986 in Reykjavík sogar alle Atomwaffen abschaffen, also eine atomwaffenfreie Welt. Reagan stimmte ihm zunächst zu, konnte sich aber gegenüber den Hardlinern in Washington nicht durchsetzen, sonst hätten wir vielleicht schon heute eine komplett atomwaffenfreie Welt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Welt ohne Atomwaffen keine unerreichbare Utopie ist, sondern eine mögliche Vision. Trotz aller Widerstände der Atomwaffenbesitzer: Der Vertrag gegen die Atomwaffen ist bereits geltendes Völkerrecht. Wir können und müssen eine atomwaffenfreie Welt organisieren.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus Franz Alts soeben bei Herder erschienenem Buch "Frieden ist noch immer möglich - Die Kraft der Bergpredigt".