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Russland ist ukrainisch

Von Edwin Baumgartner

Politik
Zwei Nationen teilen sich einen Dichter: Der Ukrainer Nikolai Gogol, dem die ukrainische Stadt Charkiw hier ein Denkmal gesetzt hat, ist einer der Gründerväter der russischen Literatur.
© : Olga Meier-Sander/pixelio.de

Geschichte und Kultur bedeuten beiden Nationen viel, und sie sind darin untrennbar miteinander verflochten.


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In der Krim-Krise im Speziellen und in der Ukraine-Krise ganz allgemein hat sich der Westen praktisch ausnahmslos hinter die Ukraine gestellt gegen das in der Person Wladimir Putins verkörperte Russland. Die wirtschaftlichen und politischen Überlegungen dahinter mögen honorig sein, dem Prinzip des Audiatur est et altera pars, also des Anhörens der Gegenseite also, widersprechen sie jedoch. Es findet keine differenzierte Auseinandersetzung mit der russischen Befindlichkeit statt. Vom Verhalten Russlands leitet der Westen das Bild des "imperialistischen Aggressors" ab, die auf dem westlichen Denken in wirtschaftspolitischen Kategorien beruht. Mögen indessen wirtschaftspolitische Erwägungen Russlands und solche der Machtdemonstration auch eine Rolle spielen: Sie tun es eben nur auch. Wer jedoch die historischen und die damit eng verflochtenen kulturellen Dimensionen außer Acht lässt, missversteht Russland von Grund auf.

Russlands Selbstverständnis

Russlands Selbstverständnis ruht auf einer Trinität: Religion, Kultur und Geschichte. Selbst die Kommunisten, die sich als Revolutionäre begriffen, änderten das nur scheinbar. Nicht einmal die Religion, "Opium des Volkes" laut Karl Marx, schafften sie ab. Sie ersetzten lediglich das Christentum durch den Kommunismus, den sie von der politischen Lehre zu einem - freilich atheistischen - Glauben aufwerteten inklusive Quasi-Heiliger und Quasi-Märtyrer und einem der Idee verpflichteten sakrosankten Machthaber. Was die Geschichte betrifft, verzerrten sie überlieferte Bilder der Zaren, doch nicht alles, was Zar gewesen war, statteten sie gleichermaßen mit fast dämonischen Zügen aus wie Nikolaus II. Iwan der Schreckliche etwa (besser übersetzt mit "Iwan der Strenge") wurde ebenso zum Vorbild stilisiert wie Peter der Große.

Ebenso blieb die russische Kultur der Vergangenheit unangetastet. Tilgungen längst kanonisierter Autoren aus dem Bewusstsein, wie es die Nationalsozialisten etwa mit Heinrich Heine oder Arthur Schnitzler (ohnedies erfolglos) versuchten, um nur zwei der groteskesten Beispiele zu nennen, gab es in der Sowjetunion nicht.

Vor allem muss man zur richtigen Einstufung des heutigen Geschehens begreifen, wie tief sich der Russe auch in postkommunistischer Zeit in dieser seiner Geschichte und Kultur verwurzelt fühlt. Mögen die Zeiten vorbei sein, da russische Bauarbeiter Gedichte Alexander Puschkins auswendig rezitieren konnten, so wissen sie immer noch, wer Puschkin war, und das normale Gespräch mit literarischen Zitaten zu würzen, gehört zwar zum leise verklingenden, dennoch nach wie vor vernehmbaren guten Ton.

Aus dieser Verbundenheit resultiert, dass der Russe in kulturellen und geschichtlichen Belangen nahezu automatisch die Vergangenheit gleichsam als Symbol für die Gegenwart mitdenkt - und dass russische Machthaber dies auch tun müssen, wollen sie sich im Bewusstsein der russischen Nation vorteilhaft positionieren. Ebenso können sie diese historisch-kulturellen Bindungen nützen, um eigene politische Vorhaben zu legitimieren. Das beste Beispiel dafür ist wohl Josef Stalin, der seinen Abwehrkrieg gegen die nationalsozialistischen Invasoren zum Kampf des Generalfeldmarschalls Michail Illarionowitsch Kutusow gegen Napoleon parallel setzte.

Was dies alles mit dem gegenwärtigen Ukraine-Konflikt zu schaffen hat, ist einfach erklärt: Koppelt sich die Ukraine in ihrer Gesamtheit komplett, also nicht nur politisch, sondern auch, was früher oder später die naturgemäße Folge wäre, auch geistig von Russland ab, zieht das dem russischen Selbstverständnis, dem russischen Geschichts- und Kulturbewusstsein, den Boden unter den Füßen weg. Denn die historisch gewachsene enge Verflechtung beider Nationen macht es unmöglich, eine eigenständige russische Geschichte zu erzählen.

So ist der mittelalterliche Vorläufer-Staat des gegenwärtigen Russland die Kiewer Rus - und somit ein Staat mit Zentrum in der heutigen Ukraine. Auch das (in seiner Echtheit bisweilen angezweifelte, nach aktuellem Stand als echt geltende) russische Nationalepos, das "Igorlied", ist auf
ukrainischem Boden entstanden.

Beginn der russischen Literatur

Doch damit nicht genug: Die russische Dichtung ist vergleichsweise jung. Vor dem 19. Jahrhundert besteht die russische Literatur fast ausschließlich aus religiösen Schriften und Chroniken. Die russische Literatur, wie wir sie verstehen, wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts von zwei genialen Autoren buchstäblich aus dem Boden gestampft, und das gleich auf dem schwindelerregenden Niveau von Höhepunkten der Literaturgeschichte, nämlich von Alexander Puschkin und Nikolaj Gogol. Puschkin folgt dabei der Erzählkunst französischer Vorbilder, während Gogol einen genuin russischen Tonfall schafft, der bis in die Gegenwartsliteratur dieser Nation prägend wirkt - nur ist dieser Gogol, der am Ende des ersten Teils seines Romans "Die toten Seelen" den literarisch wohl bedeutendsten Hymnus auf Russland verfasst ("Fliegst nicht auch du, Russland, wie eine schnelle Troika, die niemand einholen kann, dahin? Wie Rauch staubt unter dir die Straße, die Brücken dröhnen, alles bleibt zurück!"), dieser Gogol also ist Ukrainer, und ein großer Teil seines erzählenden Werks basiert auf den Legenden und Volkserzählungen seiner ukrainischen Heimat.

Um diese Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis zu übersetzen: Es würde bedeuten, das Nibelungenlied und Goethe an eine andere Nation abzutreten; oder, für Österreich, Nestroy und Grillparzer hergeben zu müssen. Wobei die Übersetzung schon deshalb nicht ganz gelingt, weil im deutschsprachigen Raum der literarische Kanon an Wert eingebüßt hat und der Nationalsozialismus obendrein jegliches nationale Empfinden fragwürdig gemacht hat. Aber entsinnen wir uns der tagelangen medialen Aufregung, als im ZDF Mozart als Deutscher bezeichnet wurde.

Apropos: Auch die russische Kunstmusik ist vergleichsweise jung. Vor ihrem im 19. Jahrhundert mit Michail Iwanowitsch Glinka beginnenden Höhenflug gibt es nur einen bedeutenden Komponisten, der entsprechende nationale Verehrung in Russland genießt: Dmitri Bortnjanski - ein Ukrainer.

Am Namen erkennen

Wie sehr Russen und Ukrainer miteinander verflochten sind, erkennt man nicht zuletzt an den Namen: Enden Namen von Russen auf "-enko" und, seltener, "-uk", verraten sie, möglicherweise in weiter Vergangenheit, ukrainische Vorfahren, während Ukrainer mit "-ij"-, -ow"- und "-ew"-Endungen wahrscheinlich auf russische Vorfahren verweisen können, wie etwa der KPdSU-Parteichef Leonid Breschnew oder sein früherer Amtskollege Nikita Chruschtschow - Letztgenannter war es übrigens, der die Krim zur 300-Jahr-Feier des Vertrags von Perejaslaw der Ukraine schenkte. In diesem Vertrag leisteten die Kosaken, die freien Vertreter der ukrainischen Bevölkerung, einen Treueeid auf den russischen Zaren Alexei Michailowitsch.

Die Verwurzelung des Russen in seiner Geschichte trägt die Bedeutung dieses Vertrags weiter bis herein in unsere Gegenwart, wie auch der Russe das Igorlied und das Werk Gogols als den Samen seiner Kultur wertet, ohne die er nicht Russe sein kann. Würde Putin die Ukraine widerstandslos aus der russischen Einflusssphäre entlassen, würde er sich am Geschichts- und Kulturverständnis seiner Nation versündigen.