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"Russland liebt seine Reformer nicht"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die Politologin Nina Chruschtschowa über russische Irrealitäten, Putins Vorbilder und ihren Großvater.


"Wiener Zeitung": Wenn man sich die aktuellen Diskussionen zwischen Russland und dem Westen ansieht, erhält man den Eindruck, wir leben in verschiedenen Realitäten.Nina Chruschtschowa: Jedes Land lebt in gewisser Weise in seiner eigenen Realität. Aber Russland war freilich tendenziell immer schon Trugbildern, dem Wahn zugeneigt. Wenn ein Land sich über elf Zeitzonen erstreckt, kann man es sich nur vorstellen. Es physisch zu erfahren, ist unmöglich. Deswegen gab es immer ein Gefühl der Irrealität in Russland, Vorstellungen überwogen immer die Realität. Aber große Länder denken allgemein anders über sich selbst. Nehmen Sie die USA: Die sind auch nicht sehr realistisch. Auch sie finden: Wir können das tun, was andere nicht tun können. Wladimir Putin wünscht sich, dass Russland genau so über sich denkt. Freilich stellt sich Putin die Frage, warum er nicht tun kann, was die USA tun können, die etwa im Irak ungestraft davonkamen.

Hat er eine Antwort darauf?

In Wirklichkeit hat er die Frage selbst beantwortet, indem er sich die Krim genommen hat. Er erlaubt so den USA nicht, ein besonderes Land zu sein.

Aber auch in Russland liebt man es, den eigenen Sonderweg zu betonen. Dazu hört man seit der Krim-Annexion immer öfter, dass "man uns endlich wieder achtet".

Fürchtet.

Stimmt, auch fürchtet. Was ist den Russen wichtiger, respektiert oder gefürchtet zu werden?

In Wirklichkeit ist das für die Russen das Gleiche. Wenn sie mich achten, heißt das, dass sie mich auch fürchten. Putin findet, dass man auf keine andere Art Respekt erreichen kann. Darin liegt auch der Unterschied zu den USA. Die USA wollen Respekt - tun aber so, als ob Angst nicht zu diesem Respekt gehören würde. Gleichzeitig verstehen alle, dass auch soft power sehr anziehend ist. Aber wie man soft power erreicht, das ist irgendwie verschwommen und dauert zudem auch lange. Bomben funktionieren viel schneller.

Aber versucht Putin nicht durch seine häufigen Bezüge auf die "Russische Welt" und die positiven charakterlichen Eigenschaften des "Menschens der Russischen Welt", soft power zu vermitteln?

Er versucht in der Tat, Russland so attraktiver zu machen. Das wäre alles gut und schön, ich habe gar nichts gegen die Russische Welt. Das Problem ist, dass das, was Putin heute verspricht, vor allem ein Propaganda-Instrument ist, ein hypothetisches Konzept ohne Bezug zur Realität. Zur Zeit des Kalten Krieges standen die USA für eine größere Möglichkeit individueller Wahloptionen, dieses Versprechen konnte man angreifen, indem man Jeans kaufte, bestimmte Musik hörte, in ein US-Restaurant ging. Gut, wir können uns hinsetzen und über die russische Seele sprechen, noch einmal Dostojewskij lesen, darüber nachdenken, wie toll russisches Ballett ist und wie wir die Menschheit retten, wenn wir ein Sowjetbild noch hinzunehmen. Nur ohne Verwirklichung dieser Formeln auf der individuellen Ebene funktioniert die russische soft power nicht.

Zum Anlass der "Rückkehr" der Krim wurde eine Silbermünze mit Putins Konterfei gedruckt, darüber die Inschrift "Sammler russischer Erden". Wird Putin noch mehr russische Erde sammeln?

Er sieht sich definitiv als Sammler. Er hat Abchasien und Südossetien eingesammelt, und in der Ostukraine geht jetzt dasselbe vonstatten. De facto hat er diese Gebiete schon erhalten, wir können natürlich darum streiten, was für eine Art von Krieg dort geführt wird, was für Wahlen dort abgehalten wurden - aber es werden bereits russische Pässe ausgegeben, gleich wie in Abchasien und Südossetien. Wenn der ukrainische Präsident Petro Poroschenko militärisch dort noch härter eingreift, gibt es sicher einen Krieg. Gleich wie in Zchinwali (Hauptstadt der von Georgien abtrünnigen Region Südossetiens, Anm.) wird Russland das ostukrainische Territorium verteidigen.

Sie sagen, die Ostukraine ist schon an Russland verloren?

Aus meiner Sicht ja, die Gebiete sind für die Ukraine schon verloren. Auch wenn Russland sie noch nicht wie Abchasien oder Südossetien als unabhängig anerkannt hat. Weiters steht wohl Transnistrien an. Ob er diese Territorien wirklich braucht? Wohl nur bedingt.

Wie sieht Russland in zehn Jahren aus?

Mein Szenario war immer, dass bis 2025 Russland zerfällt, denn bisher sind alle Imperien zerfallen, und das, was Russland heute ist, ist ein noch nicht zu Ende zerfallenes Imperium. Auch wenn Putin versucht, das Land ins 9. Jahrhundert zurückzubefördern.

Heute wird in Russland die Sicht auf die Sowjetgeschichte zunehmend umgedeutet. Wie stolz sind die Russen heute noch auf Nikita Chruschtschow, Ihren Großvater?

Stolz? Wie denn? Er hat doch die Krim hergegeben! Der Ukraine! Nein, Putin hat ihn zu einem persönlichen Feind erklärt. Wofür ich ihm aber sehr dankbar bin. Ich bin natürlich stolz auf den Familiennamen, denn etwas Schlimmeres als den Stalinismus gibt es nicht. Und Chruschtschow hat damit aufgeräumt, wenn auch nicht ideal und endgültig, aber das war eine große Tat. Aus den Köpfen hat Stalin bis heute freilich noch niemand entfernt. Putin liebt generell keine Reformer wie Chruschtschow oder Gorbatschow, er bevorzugt die "Sammler russischer Erden" wie Peter den Großen, Katharina II. oder Stalin. Und generell fällt es Russland schwer, auf seine Reformer stolz zu sein. Wir lieben sie nicht.

Zur Person

Nina

Chruschtschowa

ist Professorin für Internationale Beziehungen an der The New School in New York. Sie sprach diese Woche im Kreisky-Forum in Wien.