Wohin führt der Dauerstreit zwischen dem westlichen Militärbündnis und Russland?
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Es war ein neuer Tiefpunkt im an Tiefpunkten reichen Verhältnis zwischen Russland und der Nato: Vor etwas mehr als einer Woche kündigte Russlands Außenminister Sergej Lawrow an, dass sein Land ab 1. November die institutionalisierten Kontakte zum westlichen Militärbündnis abbrechen werde. Das ständige russische Vertretungsbüro bei der Nato in Brüssel werde - zumindest vorerst - geschlossen, und das Nato-Informationsbüro in Moskau aufgelöst. Der Grund: Zwei Wochen zuvor hatte die Nato mehrere russische Diplomaten ausgewiesen. Sie sollen Spione gewesen sein.
Damit bleibt der Nato im Falle dringender Probleme nur noch der Kontakt zum russischen Botschafter in Belgien. Die Kommunikationskanäle zwischen dem Bündnis und Russland haben sich auf ein Minimum reduziert - ein Umstand, der angesichts des aktuellen Rüstungswettlaufs beängstigen kann: Vergangenen Freitag erst vereinbarten 17 Nato-Staaten, bis Juni nächsten Jahres einen Innovationsfonds einzurichten. Über ihn soll mindestens eine Milliarde Euro in Technologien investiert werden, die zur Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten des Bündnisses genutzt werden können.
Als ein Beispiel für solche Technologien wurden jene Hyperschallantriebe angeführt, die Russland und - so vermutet der Westen - auch China entwickeln. "Der neue Nato-Innovationsfonds wird sicherstellen, dass die Alliierten die neuesten Technologien und Fähigkeiten, die für unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung sein werden, nicht verpassen", erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg - dazu gehören auch selbstfliegende Flugzeuge und Robotersysteme.
USA bei modernen Waffen immer noch weit voran
Ob die Nato bei den neuen Waffen gegenüber Russland oder gar China wirklich einen Rückstand aufzuholen hat, ist freilich zweifelhaft. Der Politologe Heinz Gärtner sieht die USA bei der Entwicklung moderner Waffensysteme immer noch weit voran. Das spiegelt sich auch in den Zahlen, was das Gesamtausmaß der Rüstung betrifft: Rund 700 Milliarden US-Dollar geben allein die USA pro Jahr für Waffen aus, Russland kommt demgegenüber nur auf etwa 60 Milliarden - das sind etwa 8 Prozent der Rüstungsausgaben aller Nato-Staaten. Allein die europäischen Nato-Staaten geben zusammengenommen viermal so viel für Rüstung aus als der Kreml. "Von einem Wettrüsten kann man bei diesem Größenunterschied nicht sprechen", sagt Gärtner zur "Wiener Zeitung".
Dennoch ist man auch im Westen nervös. "Die neuen Hypersonic-Waffen, die sehr viel schneller zum Ziel gleiten als herkömmliche Raketen, sind keine ballistischen Waffen. Für die gibt es im New Start-Vertrag - dem letzten Rüstungsbegrenzungsvertrag, der zwischen USA und Russland noch aufrecht ist - Kontrollmechanismen", führt Gärtner aus. "Für die Hyperschallantriebe gibt es keinen Vertrag. Dazu kommt, dass man nicht genau weiß, ob man diese konventionellen Waffen irgendwann nicht auch nuklear bestücken könnte", sagt der Experte vom Internationalen Institut für den Frieden (IIP) in Wien.
Er verweist auf eine beängstigende Entwicklung: "Die Großmächte sehen sich nicht mehr an, was die Gegenseite an Rüstung tatsächlich aufzubieten hat. Man denkt vielmehr voraus und überlegt: Was könnte der Gegner in zehn, 15 Jahren haben? Und wie könnte ich diese mutmaßliche Entwicklung heute schon unterlaufen?", analysiert Gärtner. Das Ergebnis: "Wir haben heute eine Art Autismus bei der Rüstung", betont der Experte - einen blinden Automatismus ohne Kontrollmechanismen wie noch zur Zeit des Kalten Krieges, als es trotz des beinharten Systemkonflikts ein Dokument wie die KSZE-Schlussakte von Helsinki gab, in der sich die Staaten beider Blöcke zur friedlichen Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und zur Wahrung von Menschenrechten und Grundfreiheiten verpflichteten. "Davon sind wir heute meilenweit entfernt", befindet Gärtner.
Möglicher Nato-Beitritt der Ukraine heizt Konflikt an
Ein Grund dafür ist, dass zwischen den Rivalen jedes Vertrauen geschwunden ist. Die Nato zeigte sich im September alarmiert über russisch-belarussische Militärmanöver, und noch im Mai soll Russland westlichen Angaben zufolge rund 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Die neue Nato-Strategie zielt deshalb darauf ab, auf gleichzeitige Angriffe Russlands im Baltikum und in der Schwarzmeer-Region vorbereitet zu sein. Der Kreml zeigt sich umgekehrt über eine Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin alarmiert. Der erklärte vergangene Woche, Russland habe kein Recht, die Bemühungen der Ukraine zur Aufnahme in die Nato zu unterbinden. Russlands Staatschef Wladimir Putin sagte daraufhin, Austin habe praktisch den Weg für einen Nato-Beitritt Kiews geebnet. Selbst wenn es keine formelle Aufnahme geben sollte, so Putin, treibe die Nato die militärische Entwicklung der Ukraine voran. Für Russland stelle das eine ernste Bedrohung dar.
In der Tat traut man in Moskau dem Westen mittlerweile so gut wie alles zu: "Höchste russische Führungskreise sehen Russland als eine belagerte Festung an", sagt Russland-Experte Alexander Dubowy der "Wiener Zeitung". Dabei, so Dubowy, würde auch an Theorien geglaubt, die sich für westliche Ohren abenteuerlich anhören: "Sergej Naryschkin, als Leiter des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR eine der maßgeblichen Führungsfiguren rund um Putin, hat in einem Interview einmal geäußert, der Westen wolle Russland zerstören und sich Teile des Landes aneignen." Es seien die Falken aus dem Sicherheitsapparat, so Dubowy, die immer öfter das Ohr Putins bekämen. Damit würde sich in der russischen Führung auch jene Sichtweise verfestigen, wonach jeder Aufstand gegen autoritäre Strukturen in Russland oder seinen Nachbarländern, etwa der in Belarus, auf westliche Strippenzieher zurückzuführen sei - ein Befund, der innenpolitische Gründe für den Unmut in der Bevölkerung freilich vollständig ausklammert.
Der neue Kalte Krieg ist gefährlicher als der alte
Während der Kreml sich von der nach Osten expandierenden Nato unter Druck gesetzt fühlt, hat er selbst kein Verständnis für die Interessen osteuropäischer Staaten wie etwa Polen oder der baltischen Staaten, die nach langer Unterjochung durch Moskau ihr Heil in einer raschen Anbindung an die Nato suchten. Umgekehrt ignoriert man im Westen die Sicherheitsinteressen Russlands und die historisch bedingten Sensibilitäten etwa im Fall der Ukraine, eines mit Russland eng verknüpften Landes.
Das Ergebnis: Der neue Kalte Krieg, der sich spätestens nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland entwickelt hat, ist deutlich krisenanfälliger als der alte. Statt berechenbarer, gewissermaßen eingefrorener Konflikte hat man es heute mit einer Situation zu tun, in der böse Überraschungen um einiges wahrscheinlicher geworden sind.