Zum Hauptinhalt springen

Russland spricht einen Toten schuldig

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich

Politik

Kremlkritischer Anwalt Sergej Magnitski kam offenbar dem System in die Quere.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Moskau. Verteidigen konnte er sich nicht. Er konnte nicht einmal im Gerichtssaal erscheinen, nicht ein Wort sagen gegen die Anschuldigungen. Auch nicht mit dem Kopf schütteln angesichts der Absurdität, die da über ihn hergefallen war. Aber wahrscheinlich hätte sich Sergej Magnitski nicht einmal mehr über solche Abwegigkeiten im russischen Justizsystem gewundert. Viel hatte sich der regierungskritische Anwalt mit Gesetzen beschäftigt, mit dem Unrecht im Land. Mit Korruption. Zu viel. Am Donnerstag kassierte er schließlich selbst ein Urteil. Als Toter. Ein historischer Schuldspruch in Russland. Nicht einmal zu Sowjetzeiten hatten Richter tote Angeklagte vor Gericht "gezerrt".

Ein Moskauer Bezirksgericht sprach Magnitski in einem aufsehenerregenden Prozess posthum des Steuerbetrugs für schuldig. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Magnitski zusammen mit seinem Ex-Chef, dem britischen Investor William Browder 13 Millionen Euro hinterzogen hat. Sie hätten Steuererklärungen gefälscht und illegal von Vergünstigungen profitiert, die für Behinderte gedacht seien. Browder wurde in Abwesenheit zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Verfahren gegen Magnitski wurde formell eingestellt, eine Rehabilitierung ist nicht möglich.

Der Anwalt arbeitete für die amerikanische Hermitage Capital in Moskau - bis er im November 2009 mit 37 Jahren im Moskauer Untersuchungsgefängnis "Matrosenstille" starb. Auf den Totenschein schrieb ein Arzt: kardiovaskuläre Insuffizienz. Herzschwäche. Seine Leiche aber wies Zeichen von Misshandlungen auf. Er soll, so sagen seine Mutter, seine Verteidiger und russische wie internationale Menschenrechtsorganisationen, in der Haft geschlagen worden sein, zudem soll ihm dringend notwendige medizinische Hilfe verweigert worden sein. Mehrere Menschen, die in seinen Tod verwickelt sein sollen, standen bereits vor Gericht. Verurteilt wurde allerdings niemand. Hermitage Capital wirft Russlands Präsident Wladimir Putin persönlich vor, Drahtzieher der Anklage zu sein. Magnitski sei, so sagt sein Chef Browder, einer 230 Millionen Dollar schweren Veruntreuung durch russische Beamte auf die Schliche gekommen.

Der Financier versucht seit Jahren, das Ansehen seines ehemaligen Mitarbeiters reinzuwaschen. Mit Erfolg - außerhalb Russlands. Die USA erließen im Dezember 2012 das Magnitski-Gesetz, das 60 Beamten, die in den Tod des Anwalts verwickelt sein sollen, die Einreise verbietet.