Putins Krieg negiert eine fundamentale Entwicklungslinie der Menschheit.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Angriff von Wladimir Putins Russland auf die Ukraine hat das Völkerrecht zurückgeworfen. Das ist keine politisch banale Aussage. Neben all dem menschlichen Leid, aller Zerstörung und dem wirtschaftlichen Desaster ist dem Völkerrecht großer Schaden zugefügt worden. Es greift zu kurz, nur von Krieg und Frieden zu reden. Es greift zu kurz, für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine zu sein und Verhandlungen zu fordern. Es greift zu kurz, Putins Motive zu erforschen; es ist uninteressant, ob es Kränkung, imperialistisches Gehabe, Hass auf den Westen oder was auch immer sei. Es greift zu kurz, das Ganze unter dem Aspekt USA vs. China zu analysieren. Putins Krieg negiert eine fundamentale Entwicklungslinie der Menschheit, nämlich die mühsame, aber überlebensnotwendige Bemühung, Gewalt einzuhegen.
Das Recht dient in letzter Konsequenz dazu, die Gewalt einzuhegen. Man kann Gewalt nicht abschaffen, zu tief ist sie im Menschen verwurzelt, man kann sie aber eindämmen. Seit Jahrtausenden ist die Menschheit auf diesem Weg erfolgreich. Ja, trotz aller persönlichen und institutionellen Gewalt, die ständig der Fall ist, hat die Menschheit Instrumente zum Ausgleich der auseinanderstrebenden Interessen von Individuen, von kleinen und großen Gruppen entwickelt. Von Hammurabi bis zum jüngst finalisierten internationalen Abkommen zum Schutz der Weltmeere reichen die Bemühungen.
Jeder Staat hat ein Strafrecht und ein Privatrecht. Unabhängig davon, ob und wie gut sie funktionieren - sie existieren und sollen das Zusammenleben der Menschen erträglich, besser und gewaltfrei machen. Es gibt aber einen großen, schmerzlichen Unterschied zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen Recht. Der moderne Staat hat im Inneren das Gewaltmonopol und kann es den Staatsbürgern gegenüber als Ultima Ratio ausspielen (der Missbrauch dieser Macht steht auf einem anderen Blatt). Im Völkerrecht gibt es zwar gleichberechtigte Subjekte, aber keine Instanz, die das Gewaltmonopol besitzt und es gegen einen Rechtsbrecher durchsetzen kann. Das Lehrbuch sagt: Die Sicherung der Geltung des Völkerrechts ist ein "nur rudimentär entwickeltes Gebiet" (Menzel/Ipsen, 1979).
Es braucht weitere Schritte zur Einhegung der Gewalt
Nach den großen Aggressionen des Ersten und Zweiten Weltkriegs hat die Völkergemeinschaft beachtliche Schritte unternommen, um das Völkerrecht voranzubringen (Völkerbund und Vereinte Nationen). Glasklar sind die Festlegungen der Charta der Vereinten Nationen von 1945: Streitigkeiten sind durch friedliche Mittel zu lösen. Putin schiebt das beiseite und wendet Gewalt an, um sich mit falschen Argumenten einen benachbarten Staat einzuverleiben. Er stellt sich damit gegen die Entwicklung der Menschheit, die zwar mühsam verläuft, deren Richtung aber eindeutig ist: Einhegung der Gewalt.
Der 24. Februar 2022 war keine Zeitenwende, sondern der Rückgriff auf völkerrechtlich unerlaubte Mittel. Dasselbe ist von der Äußerung Xi Jinpings zu sagen, China müsse Kriege gewinnen. Welche Kriege? Kein Staat wird China angreifen, also braucht es keine Kriege zu gewinnen. Es ist unerträglich, dass sich ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht derart gegen die UNO-Charta wendet wie Putins Russland. Es ist unerträglich, dass sich diese Macht eines Söldnerheeres bedient, welches das alte Faustrecht praktiziert.
Die Menschheit wird nach diesem Krieg, oder besser schon währenddessen, weitere Schritte im Völkerrecht zur Einhegung der Gewalt unternehmen müssen. Wie soll das gehen?
Erstens braucht es dringend eine Reform der UNO und des Sicherheitsrates. Ein Staat, der die Grundlagen der Charta verletzt, muss das Stimmrecht verlieren.
Zweitens sind, da der Rückgriff auf Gewalt auch im Völkerrecht nur die Ultima Ratio sein kann, als Verteidigung nämlich, alle präventiven Instrumente zu schärfen. Sanktionen müssen automatisiert werden. Nicht erst nach mühsamen Verhandlungen, nicht nur von einem Teil der Staaten, sondern automatisch müssen sie in Kraft treten können, wenn ein Staat gegen das Gewaltverbot des Völkerrechtes verstößt und einen anderen Staat erobern will.
Drittens sind Waffenproduktion und -handel viel strengeren Auflagen zu unterwerfen. Abrüstungsprozesse sind in Gang zu setzen, nicht nur bei Atomwaffen, auch in anderen Sektoren.
Der Schutz des einen fördert den Schutz anderer
Ist das alles Utopie? Nein, es laufen ja schon seit langem Reformbemühungen in der UNO. Diese sind jetzt entschieden aufzugreifen. Warum ist das so wichtig? Der Soziologe Max Haller hat überzeugend dargelegt, dass die gesellschaftlichen Grundwerte wie kommunizierende Gefäße funktionieren ("Die revolutionäre Kraft der Ideen", 2022). Die Verletzung eines Grundwertes zieht die Verletzung anderer Grundwerte mit sich. Der Schutz des einen fördert den Schutz anderer. Die gesamte Rechtsentwicklung zielt auf nichts anderes, als die Grundwerte zu entfalten und zu schützen.
Die existenziellen Grundwerte sind Leben, Frieden und Sicherheit. Sie werden durch Krieg und die Anwendung von Gewalt niedergerissen, und im Fallen reißen sie weitere Grundwerte mit sich, von den Menschenrechten bis zum ökonomischen Wohlstand. Deshalb gehört das Völkerrecht zu den wichtigsten und kostbarsten Erfindungen der Menschheit. Es soll den Frieden gewährleisten, weil der letztlich allen nützt (Immanuel Kant: "Zum ewigen Frieden", 1795). Die Bewahrung des Friedens schützt alle anderen Werte.
Es ist zutiefst zu bedauern, dass im Völkerrecht die Durchsetzbarkeit nur "rudimentär entwickelt" ist. Putin hat sich durch die Gewaltanwendung gegen die Entwicklung der Menschheit in Richtung Verrechtlichung gestellt. Die Staatengemeinschaft muss reagieren. Erst dann kann man von Zeitenwende sprechen.
Sie sind anderer Meinung?
Diskutieren Sie mit: Online unter www.wienerzeitung.at/recht oder unter recht@wienerzeitung.at