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Russlands Finanzkrise als heilsamer Schock

Von Andrej Sokolow, Moskau

Wirtschaft

Ein Jahr nach Ausbruch der schweren Währungs-und Finanzkrise hat sich Russland entgegen düsterer Prognosen von den dramatischen Ereignissen des vergangenen August weitgehend erholt. Die | Aktienpreise sind wieder auf den Vorkrisenstand geklettert; trotz der damaligen horrenden Verluste tragen viele Russen ihr Geld wieder zur Bank, und zahlreiche Experten sehen die Krise dank des | positiven Effekts der Rubelabwertung gar als heilsamen Schock.


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Die ständigen Regierungswechsel - die Duma stimmte am Montag über Wladimir Putin, den vierten Ministerpräsidenten binnen eines Jahres ab - scheinen die Erholung nicht beeinträchtigt zu haben.

Der 17. August 1998 markiert den bisher schwärzesten Tag in der Wirtschaftsgeschichte des neuen Russland. Damals stellte die Regierung des jungen Reformers Sergej Kirijenko wegen knapper Kassen die

Bedienung der Binnenschulden ein und gab den Rubel zur Abwertung frei. Internationale Finanzmärkte kamen ins Taumeln, das Vertrauen in Russland war dahin, der Rubel verlor nach mehreren Jahren

Stabilität in wenigen Wochen 755 seines Werts. Russische Banken konnten ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, internationale Finanzorganisationen stellten sämtliche Unterstützung ein.

Schuld an dem Desaster waren aus russischer Sicht vor allem die sinkenden Erdölpreise. Sie waren vornehmlich wegen der Asienkrise zum Sommer vergangenen Jahres unter zehn Dollar pro Barrel gefallen.

Für Russland, das vor allem von Erdöl- und Gasexporten lebt, war das ein schwerer Schlag. Da es in mehr als fünf Reformjahren nicht gelungen war, die Produktion anzukurbeln und einen stabilen Zufluss

von Steuergeldern zu gewährleisten, brach das Gerüst der russischen Finanzen zusammen.

Der Rubel stürzte ab und zog zahlreiche Banken und Unternehmen mit sich, die hohe Devisenkredite aufgenommen hatten. Doch unerwartet für viele hatte die drastische Rubelabwertung einen positiven

Schockeffekt. Vor der Krise wurde der Rubelkurs mit milliardenschweren Devisenverkäufen der russischen Zentralbank aus Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) künstlich gestützt. Der billige

Dollar machte Importe günstig. Dies änderte sich am 17. August schlagartig. Importwaren waren für die Mehrheit der Russen plötzlich zu teuer. Der schwache Rubel machte indessen die Produktion in

Russland wieder profitabel.

Im Juli dieses Jahres lag die Industrieproduktion um 11% höher als ein Jahr zuvor. Besonders auf dem Lebensmittelmarkt haben russische Waren große Teile zurückerobert. Die Rubelabwertung rettete aber

auch die russischen Autohersteller, die ihre veralteten Autos wie den Lada wieder massenhaft absetzen können. Und selbst die Anfang der 90-er Jahre durch die Flut billiger und besserer Importe

erdrückte Fernseherproduktion kam wieder in Gang.

Entgegen fast apokalyptischer Erwartungen ließen die Regierungen der beiden Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow und Sergej Stepaschin keinen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft zu. Die

Inflationsrate, die infolge der Krise 1998 auf 84%hochschnellte, wurde von einer Politik des knappen Geldes stetig eingedämmt. Die Steuereintreibung wurde verbessert und auf Druck des IWF wurden

erste verhaltene Schritte zur Reform des maroden Bankenwesens gemacht. Im Juli sagten IWF und Weltbank Russland erstmals wieder Milliardenkredite zu. Bei Verhandlungen mit dem Pariser Club der

westlichen Gläubigerländer erhielt Russland auch den dringend benötigten Zahlungsaufschub für die Sowjetschulden.

Das Vertrauen der Investoren kehrt jedoch nur langsam zurück. Kürzlich herausgegebene Bonds selbst so bekannter Unternehmen wie des Gasgiganten Gazprom und der Ölgesellschaft LUKoil verkauften sich

nur schleppend. Experten weisen darauf hin, dass die positiven Tendenzen in der russischen Wirtschaft massiv auf dem Anstieg der Erdölpreise - bis auf 20 Dollar je Barrel - beruhen. Und die OPEC-

Beschränkungen, die den Preisschub möglich machten, gelten vorerst nur bis nächsten März.