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Oleksandr Vilkul, Bürgermeister von Krywyj Rih, erzählt, wie Moskau ihn kaufen und zum Überlaufen bringen wollte.
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Oleksandr Vilkul, Bürgermeister der Industriestadt Krywyj Rih, war einst ein Vertreter der prorussischen Kräfte in der Ukraine und Vizepremier in der Regierung des durch die Maidan-Revolution gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Doch als Russland seinen Angriffskrieg startete, organisierte Vilkul die Verteidigung seiner Stadt.
"Wiener Zeitung": Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wird wohl - so ist zu befürchten - noch lange dauern. Was bedeutet das für die Ukraine?
Oleksandr Vilkul: Erstens: Die Ukraine braucht schwere Waffen. Zweitens: Die Ukraine braucht mehr Waffen. Drittens: Die Ukraine braucht schnell Waffen. Die Ukraine braucht diese Waffen, um sich gegen die Aggression der Russischen Föderation zu verteidigen - zu nichts anderem. Damit wiederhole ich, was unser Präsident Wolodymyr Selenskij - der übrigens aus Kriwyj Rih stammt - bei jeder Gelegenheit sagt. Unsere Armee kämpft heroisch. Aber Russland hat viel mehr Waffen und Munition zur Verfügung. Um uns also zur Wehr setzen zu können brauchen wir weiter Unterstützung.
Welche Waffen meinen Sie?
Das gesamte Spektrum: Luftabwehr, Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge, Panzer, Panzerabwehr, Flugzeuge, Hubschrauber, Lastkraftwagen.
Wie denken Sie über die Sanktionen der Europäischen Union und der USA gegen die Russische Föderation?
Die Sanktionen müssen weiter verschärft werden. Denn es fehlt immer noch das Verständnis für diesen Krieg, den Russland hier inmitten Europas angezettelt hat. Die russische Armee ist für den Tod zigtausender Menschen - darunter Frauen und Kinder - verantwortlich, Zigtausende wurden verletzt und verwundet, Frauen wurden vergewaltigt. Milliardenvermögen wurden zerstört. Wir haben bereits viele Gebiete befreit. Von dort dringen wirklich schlimme Geschichten über Verbrechen, die von russischen Soldaten begangen werden zu uns. Die russische Aggression muss gestoppt werden. Und zwar sofort. Die russische Armee verwendet Clustermunition, Kinder und Zivilisten sterben im Bombenhagel.
Wie haben Sie den Beginn des Krieges erlebt?
Ich bin am 24. Februar um 5.00 Uhr am Morgen geweckt worden, um zu erfahren, dass russische Truppen ihre Angriffe auf die Ukraine begonnen haben. Zugleich erhielt ich auch Informationen über zwei Raketenangriffe auf Militärbasen in Krywyj Rih. Nach einer Schrecksekunde habe ich umgehend die Order erteilt, die Runway des Zivilflughafens von Krywyj Rih mit Lastwagen und schweren Baumaschinen zu blockieren, damit russische Militärflugzeuge nicht in der Lage sein würden, dort zu landen. Diese Entscheidung, die Landebahn zu blockieren, hat sich rasch als richtig herausgestellt. Denn die russische Armee versuchte bereits am zweiten Tag des Angriffskrieges gegen die Ukraine, dort mit Transportflugzeugen zu landen. Ein Transportflugzeug mit Kampfflugzeugen im Geleitschutz ist im Tiefflug über den Flughafen gedonnert, dabei kann den Piloten nicht entgangen sein, dass wir die Landebahn blockiert haben und der Flughafen nicht angeflogen werden kann. Also mussten sie umdrehen. Aber nicht nur das: Auch die Navigationssysteme des Flughafens waren abgeschaltet worden. Wir wollten es den russischen Piloten ja nicht zu leicht machen.
Sie waren also vorbereitet.
Ja. Wir waren darauf vorbereitet. Dieses Muster ist ja nichts neues: Schon beim Einmarsch sowjetischer Truppen im Jahr 1968 in der Tschechoslowakei versuchten die Sowjets zuallererst, die Kontrolle über die Flughäfen zu erlangen. Was ich an diesem Tag aber noch nicht wusste - obwohl die Gerüchte sich rasch verdichteten -, ist, dass die Russischen Truppen auch versuchten, den Flughafen Hostomel - nördlich von Kiew - in ihre Gewalt zu bringen.
Woran erinnern Sie sich noch?
Am zweiten Tag des Krieges hat mich der frühere Innenminister Vitali Sachharchenko angerufen. Ich war mit Sachharchenko in der Regierung von Wiktor Janukowytsch, Sachharchenko ist nach dem Maidan nach Russland geflohen. Sachharchenko sagt zu mir: "Vilkul, die Sache ist doch schon so gut wie entschieden, du siehst ja, was vor sich geht. Schau mal auf die Karte und du siehst selbst, dass es nur mehr eine Frage von wenigen Tagen ist, bis Kiew gefallen ist. Vilkul, in unserer neuen Ukraine wirst Du ein wichtiger Mann." Ich sollte ein Übereinkommen über Frieden, Freundschaft und Kooperation mit Russland unterschreiben. Ich denke: Friede? Welcher Friede? Freundschaft? Welche Freundschaft? Es gibt keine Graustufen mehr, wenn jemand Bomben, Granaten und Raketen auf die eigene Stadt wirft, mit wem will man da verhandeln? Ich habe mit Schimpfworten geantwortet.
Die meisten unserer Leserinnen und Leser sind bereits erwachsen, Sie können ruhig erzählen, was Sie geantwortet haben.
Belassen wir’s dabei. Ein paar Tage später hat Oleh Zarjow (er war früher als prorussischer Abgeordneter im ukrainischen Parlament und galt als Anführer der Separatisten in der Ost- Ukraine, Anm.) bei mir mit einem ähnlichen Angebot angerufen. Sie dürfen erfahren, was ich ihm geantwortet habe - das kann man ja sogar auf den sozialen Medien nachlesen.

Was haben Sie denn geantwortet?
Sie wissen, was die Ukrainischen Soldaten auf der Schlangeninsel zur Besatzung des russischen Kriegsschiffes "Moskwa" gesagt haben?
Sie meinen: "Russisches Kriegsschiff, f*** dich . . ."?
So etwas in der Art habe ich auf Facebook und Telegram geschrieben.
Nun ging es also darum, die Stadt für die Verteidigung bereit zu machen.
Wir haben die Zufahrtsstraßen nach Krywyj Rih mit den 50, 60 Tonnen schweren Minenfahrzeugen blockiert. Das Wetter war damals schlecht, die Russen konnten sich zu der Zeit nur entlang der Straßen bewegen.
Hätten Sie je gedacht, dass Russland auf breiter Front angreifen würde?
Ich hätte nie erwartet, dass Russland einen Krieg mit schwerem Beschuss und dem Einsatz aller Waffen auf breiter Front beginnen würde. Ich habe auch nie geglaubt, dass die russische Armee einfach zivile Wohngebiete beschießen würde und sich so verhalten würde, wie die Nazis das im Zweiten Weltkrieg getan haben. Wladimir Putins Russland hat eine totalitäre Ideologie entwickelt, die orthodoxe religiöse Elemente wild mit einer völlig verdrehten Interpretation des Zweiten Weltkriegs, einem seltsamen Lenin-Kult und einem Nuklearmacht-Kult mixt. Der Gott diese Religion ist nicht Jesus Christus, sondern der rote Knopf.
Gibt es Chancen auf einen Waffenstillstand?
Russland wird versuchen alles zu erobern, was es erobern kann. Daher muss die Ukraine auf alle Eventualitäten gefasst sein. Wir müssen auf wirklich alles vorbereitet sein.
Sie sind Bürgermeister der Industriestadt Krywyj Rih. Wie hat der Krieg die Stadt verändert?
Krywyj Rih ist heute das größte Industrie-Zentrum der Ukraine. Vor dem Krieg wurden hier mit Bergbau und Schwerindustrie zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Nun, da Charkiw schwer verwundet und Mariupol zerstört ist, liegt dieser Anteil sicherlich noch höher. Möglicherweise macht der Anteil von Krywyj Rih am Bruttoinlandsprodukt nun sogar 20 Prozent aus. Was die militärische Situation betrifft: Krywyj Rih ist das Einfallstor in die Zentral-Ukraine und das wichtigste Ziel jener russischen Truppen, die von der Krim aus über Cherson tiefer in die Ukraine vorgestoßen sind. Aber wir haben sie gestoppt und ihre Pläne vereitelt.
Was hat sich für Sie als Bürgermeister geändert?
Früher hatten wir alle möglichen Entwicklungspläne: Renovierung von Schulen, Ausbesserungsarbeiten an Straßen, Verbesserung der Lebensqualität durch die Pflege der Parks. Doch jetzt gibt es nur ein Ziel: den Menschen zu helfen. Die Stadt zu schützen, die Flüchtlingsbetreuung so gut wie möglich zu gestalten.
Oleksandr Vikul wurde im Dezember 2012 stellvertretender Ministerpräsident unter Präsident Wiktor Janukowytsch. Er galt als Russland-freundlich. Doch damit ist es spätestens seit dem 24. Februar 2022 vorbei.