Der Donbass-Konflikt dürfte für den Kreml von nachrangiger Bedeutung sein - es geht um viel mehr.
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Gibt es in der aktuellen Ukraine-Krise doch noch eine Lösung in letzter Minute? Ausgeschlossen ist es nicht. Denn am Mittwoch trafen sich in Paris Vertreter Russlands und der Ukraine zu Gesprächen auf Beraterebene. Es war das erste Mal seit Ausbruch der derzeitigen Krise, dass sich Delegierte der beiden verfeindeten Länder zu Konsultationen trafen. Auch französische und deutsche Vertreter nahmen an der Zusammenkunft im sogenannten Normandie-Format teil.
Optimistisch stimmte, dass das ukrainische Präsidialamt die Wiederaufnahme der Gespräche begrüßte. Das erste Treffen in dieser Zusammensetzung seit mehr als zwei Jahren sei "ein starkes Signal für die Bereitschaft einer friedlichen Lösung", sagte der mächtige Chef des Präsidialamts, Andrij Jermak. Er hoffe auf einen konstruktiven Dialog.
Ob die Ukraine aus diesem Dialog Vorteile zu ziehen vermag, ist freilich fraglich. Aus Elysee-Kreisen hieß es allgemein, Thema der Gespräche seien humanitäre Maßnahmen und Zukunftsüberlegungen. Dabei sickerte allerdings auch durch, dass man ein Datum finden wolle, an dem die Ukraine mit den kremltreuen Separatisten über einen Sonderstatus für den Donbass verhandelt.
Gordischer Knoten im Donbass
Einfach wird das nicht. Denn ein Verhandeln mit den beiden selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Lugansk lehnt man in Kiew bisher brüsk ab. Die Ukraine sieht ihre Gesprächspartner nicht in den Marionettenrepubliken im Donbass sitzen, sondern im Kreml, der sie stützt. Für Moskau wiederum ist es wichtig, jede Beteiligung an dem Konflikt von sich zu weisen. Nur so lässt sich der Krieg in der Ukraine als internes Problem Kiews darstellen, mit Russland in der Rolle des Unbeteiligten.
Der Spielraum, über den Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew verfügt, ist dabei äußerst gering. Ein Verhandeln mit den Separatisten kommt für einen ukrainischen Präsidenten eigentlich nicht infrage. In einem solchen Fall gilt fast als sicher, dass in Kiew die Nationalisten gegen den Präsidenten rebellieren würden, der in ihren Kreisen ohnedies als russlandfreundlich verschrien ist - wenn auch, an seiner bisherigen Politik gemessen, völlig grundlos.
Auch ein Umsetzen der Minsker Vereinbarungen, die Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko unterschrieben hat, ist de facto unmöglich - nicht nur aufgrund des Widerstands der Nationalisten. Die darin vorgesehene Autonomie für die Donbass-Gebiete mit eigener Polizei und Gerichtsbarkeit sowie die geplante Amnestie für die Kämpfer der Separatisten sind heute nicht mehr umsetzbar - jedenfalls nicht ohne massiven Gesichtsverlust für Selenskyj.
Zwar schneiden radikale Nationalisten bei Wahlen stets schwach ab. Dennoch sind sie in Kiew aufgrund ihrer Entschlossenheit, auf die Straße zu gehen, und ihrer Kampferfahrung im Donbass-Krieg ein politischer Faktor. Ob sich Selenskyj leisten kann, gegen die Nationalisten zu regieren, ist ungewiss. Zumal auch der öffentliche Diskurs am Dnjepr von deren Narrativen geprägt wird.
Selenskyj unter Druck
Dass (möglicherweise) bereits über ein Datum für Gespräche zwischen Kiew und den Separatisten gesprochen wird, könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass auf Kiew auch seitens des Westens Druck ausgeübt wird. So glaubten bereits vergangene Woche manche Beobachter zu wissen, dass der jüngste Besuch von US-Außenminister Antony Blinken in Kiew nicht nur der Rückenstärkung der Ukraine gedient hat. Blinken soll auch Druck auf Selenskyj ausgeübt haben, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen - auch um Moskau zufriedenzustellen und von einem Angriff abzuhalten. Für den Westen wäre eine solche Lösung jedenfalls wesentlich weniger schmerzhaft als beispielsweise die Politik der offenen Tür der Nato aufzugeben - was ohne schweren Gesichtsverlust so gut wie unmöglich ist.
Die Frage ist nur, ob eine Implementierung der Minsker Verträge dem Kreml genügt. Schließlich geht es Russland um ganz etwas anderes: Darum, dass die Nato - und westliches Militär generell - sich nicht weiter in Richtung der Grenzen Russlands ausdehnt. Der Donbass-Konflikt ist für den Kreml dabei nachrangig - seine Bedeutung beschränkt sich darauf, dass Russland über den Donbass weiter Einfluss auf die Politik in der Ukraine ausüben kann.
Arrangement gegen China?
Manche Beobachter spekulieren deshalb auch, dass es dem Kreml in Wahrheit um ein ganz anderes, viel größeres Ziel geht: Darum, seine Position als "Joker" im Machtkampf zwischen den USA und China bestmöglich auszuspielen. Trotz des Säbelrasselns gegenüber dem Westen und den freundlichen Tönen gegenüber China sei dabei, heißt es, die Grundsatzentscheidung über die geopolitische Orientierung Russlands noch nicht getroffen. Moskau wolle sich trotz aller Konflikte die Chance auf ein Abkommen mit dem Westen nicht verbauen. Den Kreml-Eliten sei bewusst, dass man kulturell Europa näher stehe als der doch recht fremden asiatischen Großmacht. Der Ruf nach "Sicherheitsgarantien" kann so auch als Angebot an den Westen verstanden werden, eine gemeinsame Grundlage zu erarbeiten.
Ob ein derartiges Arrangement realistisch ist, ist jedoch fraglich. Zu viel Porzellan wurde zerschlagen. Viele kremlnahe Politologen sprechen sich heute klar für ein Bündnis mit China gegen den verhassten Westen aus. Der wiederum stützt die Ukraine. Die USA haben ihre Waffenlieferungen nach Kiew intensiviert. Und Deutschland kündigte an, der Ukraine 5.000 militärische Schutzhelme zu liefern. Zumindest vor den Kulissen hat sich nichts geändert.