Der Intellektuelle Sergej Lebedew über Sowjet-Nostalgie und Putinismus im heutigen Russland.
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"Wiener Zeitung": Üblicherweise sinken die Popularitätswerte von Politikern im Laufe ihrer Amtszeit. Bei den Wahlen in Russland wurde Putin zuletzt mit 77 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Wie lässt sich dieses Ergebnis interpretieren?Sergej Lebedew: Im Herbst 2013, vor der Maidan-Revolte in Kiew und der Annexion der Krim, waren Wladimir Putins Umfragedaten auf einem Tiefststand. Als Putin die Krim annektierte, schossen die Umfragewerte Putins in die Höhe. Seit diesem Zeitpunkt - März 2014 - befindet sich Russland in einem konstanten Propaganda-Fieber. Wenn man nicht in Russland lebt, kann man sich den vollen Umfang dieser Propagandamaschine, die jeden Tag im Leben der Menschen präsent ist, nicht vorstellen. Wir können also nicht von Russland als einer normalen Demokratie sprechen.
Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny meinte in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" auf eine Frage zu den Wahlen in Russland: "Welche Wahlen meinen Sie?" Ist Nawalnys Urteil zu hart?
Nein. Ich stimme Nawalny hundertprozentig zu. Natürlich gibt es eine breite Unterstützung für Putin. Was aber die prozeduralen Fragen des Wahlprozesses betrifft, dann lässt sich Folgendes feststellen: Alle, die bei dieser Wahl neben Putin zur Wahl standen, waren Marionetten-Kandidaten. Echte Gegenkandidaten wie eben Nawalny wurden von der Wahl ausgeschlossen. Wenn man im Hinterkopf behält, dass praktisch das gesamte Medien-Ökosystemen vom Staat kontrolliert wird, und wenn man bedenkt, dass ein logischer Gegenkandidat wie Boris Nemzow im Jahr 2015 Opfer eines mysteriösen Attentats wurde, dann kann man tatsächlich nicht von Wahlen sprechen. Ich würde in diesem Fall eher von einer Prozedur zur Bestätigung von Wladimir Putin in seinem Amt sprechen.
Putins Botschaft: Eine Stimme für Putin ist eine Stimme für Russland.
Das ist nichts Neues. Das hat das schon bei seiner ersten Wahlkampagne getan. Es ging damals nämlich nicht der nur darum, dass er ein Ende der turbulenten Boris-Jelzin-Ära versprach, sondern es tobte auch der Krieg in Tschetschenien. Es gab Terroranschläge in russischen Städten. Putin versprach den Menschen Stabilität und Schutz. Jetzt gibt es keine Bedrohung für Russland, diese Bedrohungen sind imaginiert. Ich würde aber sagen, dass diese imaginierten stärker als die echten Bedrohungen sind. In den 90ern wurden etwa die USA oder die Nato nicht so sehr als Bedrohung empfunden wie heute. Was sollten die auch tun? Einmarschieren? Als aber dann Wladimir Putin an die Macht kam, hat sich das langsam und Schritt für Schritt geändert. Und zwar weil die Elemente Bedrohung und Konflikt wichtige Teile von Putins Weltbild sind. Putin war ja Mitglied des Geheimdienstapparats und er hat beim KGB gelernt, dass man die Menschen am leichtesten mit Angst manipulieren kann. In seinem Weltbild geht es nicht um Kooperation, Vertrauen oder Verhandlungen, sondern er sieht die Politik als eine Art nachrichtendienstliche Sonder-Operation.
In welcher Realität befinden heute sich die Menschen in Russland?
Ich würde sagen, wir haben es mit dem Homo postsowjeticus zu tun. Während seiner ersten acht Jahre hat Putin die materielle Lage der Menschen verbessert. Danach ging es auch darum, den Menschen auch auf symbolischer Ebene etwas zu bieten. Die Menschen in Russland wollten das Trauma der Auflösung der Sowjetunion überwinden. Putin half dabei - auf seine Weise. In den letzten zehn Jahren haben die russischen Medien das Bild der sowjetischen Vergangenheit verändert. Es ist uns nicht gelungen, den jungen Menschen in Russland klarzumachen, dass die totalitäre Erfahrung des Stalinismus etwas Furchtbares ist. Wir haben es nicht geschafft, die Verbrecher der stalinistischen Ära vor Gericht zu bringen. Und diese Erfahrungen der Straflosigkeit ist in gewisser Weise sehr attraktiv für die Proponenten des heutigen Systems. Man kann im Grunde tun, was immer man tun will und dann einfach sagen: Seht mal, ich bin unschuldig. Ich würde aber schon sagen, dass die jungen Menschen in den Städten anders sind. Aber wir haben es natürlich mit zwei verschiedenen Russlands zu tun. Dem Russland der Städte und dem Russland am Land. Versuchen wir mal, Menschen am Land zu verstehen: Der Level an Armut ist am Land natürlich viel schlimmer als in den Städten. Die Menschen sagen sich: O.k., wir leben in Armut, aber wir haben unsere Würde. Und wir leben in Armut, weil unsere Feinde Russland in Armut halten. Diese Armut ist auch nicht so schlimm, weil wir in einem starken Russland leben und man unser Land und unseren Präsidenten respektiert. Und nachdem es keinen halbwegs legalen Weg gibt, um seinen Ärger kundzutun, oder seinen rebellischen Gefühlen nachzugeben, gibt es nur zwei Möglichkeiten: das Maul zu halten oder sich der Masse anzuschließen.
Die Hoffnung in diesen Jahren war, dass Russland europäisiert wird. Tatsächlich sieht es heute so aus, als würde Europa russifiziert. Was ist zur Putinisierung Europas zu sagen?
Es ist nicht überraschend, dass es in Ländern des früheren Ostblocks - inklusive Ostdeutschland, Polen, Ungarn usw. - immer noch viele ehemalige sowjettreue Funktionäre gibt, die ihrer Ostalgie nachhängen. Es gibt aber auch noch eine weitere Gruppe: Stalin nannte sie die "nützlichen Idioten". Manche von ihnen sind einfach bezahlte Akteure, manche eben nur das, was Stalin meinte: nützliche Idioten.
Ist der Putinismus - diese schräge Mischung aus Autoritarismus, Orthodoxie, ostentativ zur Schau gestellter Maskulinität, Sowjetnostalgie und Schwelgen in der Erinnerung des Zarenreichs bei gleichzeitiger Ablehnung des angeblich moralisch verkommenen Westens - eigentlich so etwas wie eine Ideologie?Nein. All das ist Vernebelungstaktik, die einerseits auf die russische Bevölkerung abzielt, andererseits auf die Menschen in Europa. Die Geschichte Russlands ist das einzige moralische Kapital der Leute im Kreml. Glanz und Glorie von Zar Peter I. oder Zarin Katharina II., der Sieg über die Nazis im Zweiten Weltkrieg, Sputnik, Juri Gagarin als Symbole des Siegs im Weltraumrennen mit den Amerikanern - all das ist Teil dieses Narrativs. Und wir stehen heute in Russland außerhalb dieser Geschichte. Wir haben keine Vision von der Zukunft und es gibt keine Idee darüber, warum die unterschiedlichsten Völker Russlands in diesem Land zusammen leben sollen. Es gibt im heutigen Russland keine Ideologie außer Geld, Geld, Geld. Und Macht, Macht, Macht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leute im Machtzirkel um Putin keinen Sinn für Geschichte haben. Diese Leute träumen von einer Ära als Joseph Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill auf Jalta mit dem Stift Grenzen auf Weltkarten eingezeichnet haben.
Welche Zukunftsvision haben die Leute im Kreml für Russland - Öl und Gas sind ja nicht gerade Zukunftsindustrien.
Das Dumme ist: Technologie finden diese Leute vor allem dann spannend, wenn man damit Wahlen in den USA oder sonst wo beeinflussen kann. Aber dass man Technologie nicht nur verwenden kann, um westliche Demokratien zu untergraben, sondern um eine konstruktive Zukunft für Russland zu gestalten, das kommt ihnen nicht in den Sinn.
Was dann?
In ihrem Weltbild läuft Geschichte am besten langsam ab. Wenn es ruckartige Geschichtsabläufe gibt, dann ist das nach Meinung dieser Leute gar nicht gut. Putin hat einmal seinen Schock beschrieben, als DDR-Bürger im Jahr 1989 das KGB Büro in Dresden, wo Putin damals Dienst tat, stürmen wollten. Er schilderte, wie er mehrmals versucht hat, das KGB-Hauptquartier telefonisch zu erreichen: Aber Moskau schwieg. Man stelle sich das vor: Vor den Fenstern von Putins Büro in Dresden wird Geschichte gemacht und aus Moskau kommen keine Instruktionen! Damals hat Putin wohl den Schluss gezogen, dass man die Macht des politischen Frosts nutzen muss. Man friert diese und jene Entwicklung ein, stoppt dieses und jenes, oder man verlangsamt die Dinge zumindest, so gut man kann. O.k., es gibt jetzt vielleicht keine Entwicklung mehr, dafür ändert sich auch nichts.
Stillstand als Tugend?
Man darf auch die Unsicherheit von Putin und der Leute um ihn nicht unterschätzen: Die meisten Leute aus dem Kreis um Putin sind nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten dort gelandet, wo sie heute sind. Im Jahr 1996 war Putin der stellvertretende Bürgermeister von Sankt Petersburg. Vier Jahre später war er Präsident der Russischen Föderation. Das kann man nicht als eine normale politische Karriere begreifen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Putin und die Leute um ihn verspüren, dass sie auf ihren Positionen mehr oder minder zufällig gelandet sind. Denn sie sind sicher nicht dort gelandet, weil sie wissen, was zu tun ist oder weil sie die Zukunft Russlands kennen. Ich denke auch nicht, dass sie eine höhere Idee in sich tragen, auf der sie aufbauen könnten.
Zur Person
Sergej
Lebedew
(geb. 1981 in Moskau) ist russischer Journalist und Autor. Sein dritter Roman "Menschen im August" erschien 2015. Er war mehreren Verlagen in Russland zu heikel und erschien dort erst 2016 . Lebedew ist derzeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien tätig.