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· Für Russlands neu gewählten Präsidenten Wladimir Putin schlägt bald die Stunde der Wahrheit. Als amtierender Staatschef und Präsidentschaftskandidat hatte er bewusst kein ausführliches | Programm vorgestellt und sich auf abgerundete wirtschaftspolitische Äußerungen beschränkt, um Wähler aus verschiedenen Lagern nicht abzuschrecken. Doch spätestens nach der Anfang Mai erwarteten | Vereidigung wird Putin seine Zurückhaltung aufgeben müssen.
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Wie dann wohl seine Wirtschaftspolitik aussehen wird, fragen und spekulieren fast täglich russische Experten und Journalisten. Im Wahlkampf forderte er einen starken Staat, kündigte eine "Diktatur
des Gesetzes" an und versprach der Rüstungsindustrie neue Aufträge und die Rolle einer "Lokomotive der Reformen". Wo hört da ein möglicherweise populistisch angehauchtes Wahlkampfvokabular auf und
fängt der wahre Putin an, fragen Medien in Moskau. Bisher musste das Bild Putins wie ein Puzzle vor allem aus den Worten anderer zusammengestellt werden.
"Er ist ein Reformer, 100-prozentig", verspricht Boris Beresowski, einer der mächtigsten Finanziers Russlands und angeblicher enger Kreml-Vertrauter und Putin-Förderer. "Liberale Reformen und
liberale Werte", gibt die Marschrichtung der Ökonom German Gref vor, der in Putins Auftrag an einem Wirtschaftsprogramm für Russland arbeitet. Es sei sicher, dass der reformorientierte Finanzminister
Michail Kasjanow neuer Regierungschef wird, berichten informierte Kreise. Ihm solle aber nur die Umsetzung der im Kreml beschlossenen Politik anvertraut werden.
Um erfolgreich zu sein, muss Putin endlich Farbe bekennen und den Reformstau der späten Jelzin-Ära überwinden. Seit Jahren verhindern Kommunisten in der Duma den privaten Landbesitz. Seit Jahren
klagen russische und ausländische Unternehmer über hohe und unüberschaubare Steuern, die bisher nur noch höher und unübersichtlicher wurden. Durch die ausufernde Schattenwirtschaft gehen dem Fiskus
Milliarden Dollar verloren. Mindestens 15 Milliarden Dollar (15,7 Mrd. Euro/216 Mrd. S) verlassen jährlich auf legalen und illegalen Wegen das Land, und die Korruption hat alle Ebenen durchdrungen.
Wie zu Zeiten der Sowjetunion ist Russland von den Erdölexporten abhängig. Steigen die Ölpreise wie 1999, ist das Überleben gesichert. Fällt der Preis, droht eine Krise. Jetzt fallen die Ölpreise
wieder, nachdem die OPEC die Förderquoten erhöht hat. Das russische Finanzministerium versichert jedoch, dass trotz der niedrigeren Preise genug Geld in die Kassen fließen werde. In diesem Jahr
werden aber wieder Milliarden Dollar an Schuldenrückzahlungen an den Westen fällig.
Putins Problem ist auch, dass ihm wirtschaftliche Vorstellungen aus gegensätzlichen Lagern aufgedrängt werden. Zentralbank-Chef Viktor Geraschtschenko, der letzte sowjetische Zentralbanker, will die
Wirtschaft mit weicher Geldpolitik und erhöhter Nachfrage stimulieren. Diese Politik, die die Inflation hoch treiben könnte, setzt er bereits um. In den vergangenen Monaten habe die Zentralbank den
Erdölexporteuren etwa fünf Milliarden Dollar abgekauft und dafür etwa 150 Milliarden Rubel in Umlauf gebracht (5,54 Mrd Euro/10,85 Mrd DM), schrieb die Wirtschaftszeitung "Kommersant".
Als weitere Reform-Bremse kommt der für das neue Russland typische Einfluss der sogenannten "Oligarchen" hinzu, der reichen Bank- und Industriekapitalisten. Die Oligarchen, allen voran Beresowski,
haben Boris Jelzin 1996 mit großzügiger Finanzierung zur Wiederwahl in den Kreml verholfen. "Der Staat und die Oligarchen sind bei uns unzertrennlich", beschwerte sich jüngst der Reformer Boris
Nemzow. "Putin muss als erstes den Kreml wieder verstaatlichen."